Alltag um die Jahrhundertwende
Wien 1908
In 20 Stationen zeichnet Wolfgang Franz' Reiseführer das Wiener Alltagsleben im Jahr 1908 nach - von der Markteinführung des Maggi-Suppenwürfels bis zum ersten offiziellen Fußball-Ländermatch Österreich-Ungarn gegen das Deutsche Reich.
8. April 2017, 21:58
Stellen Sie sich vor, Sie stehen mit geschlossenen Augen auf einem belebten Platz. Es ist schwül, es stinkt nach Schweiß, penetrantem Parfüm und Pferdemist. Es ist laut, Hufgeklapper dringt an Ihr Ohr, im Hintergrund knattert wild hupend ein Automobil vorbei. Neben Ihnen eine näselnde Stimme. "Ja, ja, der Swoboda. Etwas verdeppert mit der Zeit. Aber ein feiner Mensch!" Sie ahnen es, Sie sind in Wien.
Genauer gesagt, am Stephansplatz, am frühen Morgen des 1. Juni 1908. Hier beginnt Wolfgang Franz' vierwöchige Zeitreise ins Wien der Jahrhundertwende – in die "Stadt Sigmund Freuds, Gustav Klimts und Karl Luegers", aber auch in jene des Herrn Kommerzialrat "Swoboda und seiner Gattin Adele, die vom eigenen Auto träumen und der Mizzi-Tante den Schmuck entwenden".
Ereignisse aus der Tageschronik als Grundlage
Man merkt schon zu Beginn der Reise: Hier wird kein "Wien um 1900"-Klischee, kein legendärer Wiener Typus ausgelassen. Der tattrige Hofrat, der griesgrämige Hausmeister, das süße Mädel - sie alle werden auf den 20 thematischen Tagesausflügen, die Wolfgang Franz durch den Wiener Alltag vorschlägt, mit dabei sein.
Egal ob es dabei um Bildung, Arbeit, Wohnen, Kriminalität, Freizeitkultur oder Erotik geht: Den Auftakt der Touren bildet - neben einem Wetterbericht - jeweils ein Ereignis aus der Tageschronik des Juni 1908.
Eine Sommernachtsredoute im Schwarzenbergpark am 4. Juni dient als Aufhänger, um in die Regeln des guten Benehmens und in die Dresscodes der Jahrhundertwende einzuführen. Der Einladung zum Katastrophentourismus nach Ottakring, wo es am 6. Juni zu einer schweren Explosion in einer Zelluloidwarenfabrik kommt, folgt ein Exkurs über das Wiener Feuerwehr- und Rettungswesen; anlässlich der Beisetzung der 15 Todesopfer des Unglücks vier Tage später lassen sich Fragen von Krankheit und Tod behandeln. Und das Ende eines einwöchigen Streiks von 50 Kellnern des Kursalons im Stadtpark am 21. Juni bietet einen trefflichen Grund, um an die Schauplätze des Kaffee- und Rauschmittelkonsums des Jahres 1908 zu reisen.
Praktische Hinweise wie Informationen zum Liniennetz und Tarifsystem der Wiener Tramway, zu den Zimmerpreisen im Hotel Sacher oder den Kosten eines Krügel Biers runden diese Themenspaziergänge ab.
Achtung beim Schwimmstil!
Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche Warnungen und Empfehlungen: Worauf muss man zum Beispiel achten, wenn man im Jahr 1908 das Schwimmen erlernen will?
Was die Technik betrifft, so konzentrieren Sie sich in erster Linie aufs Brustschwimmen. Rückenschwimmen ist Frauen strengstens untersagt, da es als unanständig gilt. Beim Kraulen ist Vorsicht angesagt. Dieser von einem Australier erst zwei Jahre zuvor eingeführte Schwimmstil gilt als "undeutsch" und wird von einigen Hardlinern, die aus dem nationalistisch angehauchten Turnereck kommen, sogar verboten. Wenn Sie dennoch auf die schnellste Fortbewegungsart im Wasser nicht verzichten wollen, meiden Sie zumindest den Begriff "Crawl" und nehmen dafür die germanisch wirkenden Ausdrücke "Beinschlagschwimmen" oder "Pudeln".
Vertraute Bilder der "guten alten Zeit"
Wer schon immer wissen wollte, woher der Begriff "Tröpflerbad" kommt, was ein "Bahöö" ist und welche Verbrechen "Kastelspritzer" und "Schränker" begingen - Auslagendiebstahl und Einbruch nämlich -, wird bei Wolfgang Franz ebenso auf seine Kosten kommen wie Liebhaberinnen und Liebhaber historischer Gruselgeschichten: Spätestens das Rezept einer Fastensuppe, für die es zwei mittelgroße Schildkröten einzukochen gilt, lässt Gänsehaut aufkommen.
Wer sich von "Wien 1908" allerdings neue Einblicke in die Wiener Alltagskultur der Jahrhundertwende erwartet, dürfte wohl eher enttäuscht sein: Zu sehr wird hier mit den vertrauten Bildern der "guten alten Zeit" als liebenswürdigem und verschrobenem Kuriositätenkabinett gearbeitet, werden die gewaltigen sozialen, politischen und nationalen Konflikte sechs Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges im leichtfüßigen Plauderton eingeebnet. Als "ironisch-beschwingt" beschreibt der Klappentext den Stil des Buches, doch die Ironie und Beschwingtheit mag vor allem an jenen Stellen, an denen der Zeitreiseführer Unterkunftstipps für Notleidende gibt, nicht so recht funktionieren:
Das Flagschiff unter den Obdachlosenasylen ist das vor drei Jahren eröffnete in der Meldemannstraße 27 im 20. Bezirk. Hier bekommen Sie einen tüchtigen Schweinsbraten um konkurrenzlose 23 Heller (ca. 1,15 Euro). Beim Beamten an der Kassa lösen Sie die Anweisung auf eine eintägige Bettstelle gegen Einwurf von 60 Hellern (ca. 1,80 Euro). Dafür gibt es eine moderne, saubere Unterkunft inklusive elektrischem Licht. Weiteres Highlight: Im Souterrain befindet sich eine Art Wellnessbereich, wo sich die Besucher für 25 Heller waschen und desinfizieren lassen können.
Die kleinen Dinge des Lebens
Dass sich die Tipps für Obdachlose fast nur auf Männerwohnheime erstrecken, weist auf ein anderes Defizit des Buches bei der Erfassung des Alltags um 1900 hin. Wolfgang Franz spricht zwar die Gefälle in den Geschlechterverhältnissen immer wieder an - das fehlende Frauenwahlrecht etwa, oder die beschränkte Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium. Wenn er jedoch die Figur des Wiener "Strizzis" als "Beschützer" einer Prostituierten vorstellt und deren Kunden als "Liebhaber" beschreibt, zeigt sich auch hier, wie rasch die Ironie in Verharmlosung und Bestätigung der vor 100 Jahren herrschenden Geschlechterhierarchien kippen kann.
Ihm gehe es nicht um die große Politik, sondern um "die kleinen Dinge des Lebens, die spannender, unterhaltsamer und vor allem menschlicher" seien "als die so genannten Meilensteine der Geschichte", schreibt Wolfgang Franz im Vorwort. Alltag und Politik als nahezu getrennte Sphären zu begreifen, ist ein Konzept, das jedoch noch nie so recht aufgehen wollte, und auch Wolfgang Franz durchbricht es immer wieder.
Explizit macht er das aber nur im letzten Kapitel des Buches, das den Titel "Politik und Extremisten" trägt und mit dem unheilsschwangeren Hinweis auf einen Oberösterreicher endet, der - 1908 gerade 19 Jahre alt und in einer Wohnung im 6. Wiener Gemeindebezirk beheimatet - aufmerksam rechtsextremes Gedankengut studiert. So haben allerdings schon viele "Wien um 1900"-Darstellungen geendet; damit allein lassen sich die mangelnden politischen Bezüge der Kapitel davor nicht ausgleichen. Dafür, dass sich die Lektüre dieses Buches dennoch lohnt, sorgen nicht zuletzt die vielen historischen Fotografien, mit denen der Band illustriert ist - und die zahlreichen Hinweise darauf, wo sich das Wien des Jahres 1908 auch heute noch im Stadtbild entdecken lässt.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Wolfgang Franz, "Wien 1908. Ein Zeitreiseführer ins Wien der Jahrhundertwende", Metroverlag