Teddybären und Pumpguns
Bewaffnetes Amerika
Warum besitzen 70 Millionen US-Amerikaner eine Waffe? Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, reiste der Fotograf Kyle Cassidy zwei Jahre lang 15.000 Meilen quer durch die USA, um Waffenbesitzer in ihrem Zuhause zu porträtieren.
8. April 2017, 21:58
Meine Mutter hätte nie eine in ihrem Haus zugelassen – vielleicht ist das der Grund, warum ich so viele Waffen habe. Entweder das oder ich bin einfach nur verrückt. Das könnte auch sein.
Dies antwortet Chris aus Missouri mit einem "Mossberg 500"-Gewehr auf dem Schoß auf die einfache Frage: "Warum besitzen Sie eine Waffe?" Nur diese eine Frage wurde den über hundert Porträtierten gestellt. Ihre kurzen Statements säumen die großformatigen, fotografischen Einblicke in ihr Heim. Auf vielen Aufnahmen nehmen die Gewehre und Pistolen eine dominante Position in den Wohnstuben ihrer Besitzer ein, auf manchen muss man sie tatsächlich erst suchen.
Die Waffe als Symbol für Freiheit
Ich habe diese Waffen, weil ich im besten Land der Welt lebe und als amerikanische Bürgerin ein Recht darauf habe.
Eine Standardphrase, die in der einen oder anderen Form den gesamten Fotoband durchzieht. 1999 schätzte die National Rifle Association, die größte Vereinigung von Waffenlobbyisten in Amerika, über 215 Millionen Schusswaffen in privaten Händen. Damit hätte ungefähr die Hälfte aller Haushalte des Landes mindestens eine Schusswaffe im trauten Heim. Die führende Anti-Waffen-Koalition der USA, die Brady Campaign, rechnet mit 192 Millionen Schusswaffen, verteilt auf immerhin 39 Prozent der Bevölkerung.
Wenn wir das Recht auf Waffenbesitz aufgeben, werden schnell die anderen Rechte folgen.
Waffenbesitz ist in der amerikanischen Gesellschaft tief verankert und das Recht, eine Waffe zu besitzen, als zweiter Zusatzartikel in der Verfassung festgeschrieben. Der Mythos der Eroberung des Landes mit dem Gewehr in der Hand, die Waffe als Symbol für die Freiheit des Individuums und das Recht auf Selbstverteidigung gehören für die meisten Amerikaner traditionellerweise zum Selbstverständnis.
Recht und Pflicht
Ich halte Waffenbesitz nicht nur für ein Recht, sondern für die Pflicht eines freien Volkes sich selbst und auch zukünftigen Generationen gegenüber.
Zitate wie diese stammen nicht von populistischen Politikern oder Vertretern der Waffenlobby, sondern beispielsweise von Dan aus Pennsylvania. Er ist ungefähr 20 Jahre alt und erinnert mit seinem charmanten Lächeln und seiner durch einen angedeuteten Mittelscheitel geteilten, schwarzen Haarpracht an den jungen Keanu Reeves. In eine schlammfarbene Cordhose und ein hellblaues Button-down-Hemd gehüllt sitzt er aufrecht, gleichsam jederzeit einsatzbereit, auf einem beige Couch-Zweisitzer in einem karg eingerichteten, kleinen Zimmer. Neben und vor ihm auf einem sauberen, weißen Tisch, auf dem man sich durchaus auch eine Stofftier- oder Computerspielsammlung vorstellen könnte, sind insgesamt zwei Maschinengewehre, zwei Repetiergewehre und sechs Pistolen penibel in Reih und Glied zur Präsentation aufgestellt.
Mehr erfährt man nicht über Dan. Doch man wird den Eindruck nicht los, dass man sein Gesicht vielleicht schon bald wiedersehen könnte. In einem Bericht über ein weiteres Blutbad in einer amerikanischen Schule.
Alltägliche Verbindung von Gewöhnlichem mit Bedrohlichem
Für mich als Geschichtslehrer ist es schön, etwas Handfestes zu haben, wenn ich Unterrichtsstunden über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg oder Vietnam plane.
Kyle Cassidy hat bewusst nicht nach den irrsten Waffenfreaks oder den größten Sammlungen gesucht. Er fuhr einfach quer durchs Land und fotografierte jeden, der eine Waffe besaß und sich dazu bereit erklärte, sich damit in privater Umgebung ablichten zu lassen. Die wirklich bizarren Momente ergeben sich also nicht aus Klischees, die hier ebenso bestätigt werden, sondern vor allem aus der ganz alltäglichen Verbindung von Gewöhnlichem mit Bedrohlichem: der realen und offenbar selbstverständlichen Kombination aus Teddybären und Pumpguns, Seidenblumensträußen und Revolvern, Maschinenpistolen und Marry-Poppins-Puppen.
Ähnlich wie bei guten Anti-Kriegsfilmen werden wohl sowohl Waffenfreaks als auch Waffengegner ihre Freude mit der großformatigen Bestandsaufnahme in Buchform haben. Kyle Cassidy erreicht damit genau den gewünschten Effekt, dass man diese Durchschnittsamerikaner als das sieht, was sie sind: keine Verrückten, keine Bösewichte, sondern einfach nur Menschen, die aus den verschiedensten Gründen Waffen besitzen und dazu stehen. So wie der rüstige Senior James aus Pennsylvania. Ein weißhaariger Brillenträger mit einem wuscheligen, kleinen Hund auf dem Schoß - eine Szene, die sich durchaus auch in einem Wiener Gemeindebau ereignen könnte:
Als man mir Krebs diagnostizierte, war ich plötzlich in einer Situation, in der ich für mich und meine Familie Schutz benötigte. Ich war zu alt, um zu kämpfen, zu krank, um zu rennen, und da mir der Krebs auch die Stimmbänder nahm, hätte ich auch nicht mehr um Hilfe rufen können. Da kaufte ich mir meine erste Schusswaffe.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Kyle Cassidy, "Bewaffnetes Amerika. Waffenbesitzer und ihr Zuhause im Porträt", aus dem Amerikanischen übersetzt von Nico Laubisch, Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf