Anpassung an europäische Standards schwierig
Beleidigte Paragrafen
Die Türkei bemüht sich um die EU: wegen Beleidigung des Türkentums wird so schnell niemand mehr verklagt. Für Kurden oder Armenier Stellung zu beziehen, ist aber nicht ungefährlicher als vor anderthalb Jahren, als Hrant Dink dafür sterben musste.
8. April 2017, 21:58
Die Türkei passt mit Blick auf die EU ihre diskriminierenden Mediengesetze demokratischeren Standards an. Journalisten sehen jedoch keine realen Verbesserungen: Nach wie vor landen sie, wie auch Intellektuelle und Menschenrechtsaktivisten, für freie Meinungsäußerung vor Gericht. Besonders, wenn es um Kurden und Armenier geht.
Beleidigung des Türkentums
Bis April war es noch der berüchtigte Paragraf 301, der Journalisten und Journalistinnen wegen "Beleidigung und Herabsetzung des Türkentums" unter Strafe stellte.
Als größte Beleidigung galt es, die stets tabuisierte Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern im osmanischen Reich im Jahr 1915 einen Völkermord zu nennen: Hrant Dink, armenisch-türkischer Journalist, war der erste, der dafür nach dem Strafrechtsparagraf 301 rechtskräftig verurteilt wurde. Am 19. Januar 2007 wurde der Friedensaktivist und Herausgeber der Wochenzeitung "Agos" von einem minderjährigen Nationalisten erschossen.
Künftig darf nur Justizminister entscheiden
Auch der Literaturpreisträger Orhan Pamuk und die Menschenrechtlerin Ereen Keskin fielen unter die zahlreiche Angeklagten nach 301 oder 216, der den Tatbestand der "Aufstachelung zu Hass und Feindschaft in der Bevölkerung" unter Strafe stellt.
Nach Forderungen seitens der EU wurde der Paragraf 301 im April umformuliert und der Strafrahmen auf höchstens zwei Jahre begrenzt. Verfahren sind künftig von der Ermächtigung des Justizministers abhängig.
Journalisten gleich bleibend gefährdet
Für die Realität der Journalisten sei das relativ irrelevant, meint Erol Önderoglu vom unabhängigen türkischen Mediennetzwerk Bianet in Istanbul: "Es gibt noch viele andere Wege, Journalisten unter Druck zu setzen."
Bianet, das gleichzeitig als Beobachtungsstelle für Menschenrechtsverletzungen in der Türkei fungiert, wurde 1997 mit EU- Finanzierungen ins Leben gerufen und hat sich mit unbequemen investigativen Recherchen einen Namen gemacht.
Önderoglu glaubt nicht, dass die formale Anpassung an europäische Presserechtsstandards die derzeitigen Probleme schnell lösen wird.
In seinem letzten Report zur Medienfreiheit für das erste Halbjahr 2008 stellt er gar fest, dass freie Meinungsäußerung schwieriger denn je geworden ist: 194 Menschen wurden zwischen Mai und Juni wegen Meinungsäußerungen über den türkischen Staat angeklagt, eine Zunahme von 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Unter den 88 Verurteilten waren 79 Journalisten.
Mentalität unverändert
Ausschlaggebend sei die Änderung der Mentalität in der Gesellschaft, meint er. Das zeigte nicht zuletzt die Fortführung des Prozesses um den Mord an Hrant Dink.
Die türkische Polizei soll von dem Attentat auf Hrant Dink vorher gewusst, es aber nicht verhindert haben, präsentierte der Richter als Ergebnis der Prozessweiterführung im Juli.
Der Angeklagte habe als Informant für die Polizei gearbeitet und die Behörden von dem geplanten Mord an Dink informiert, berichtete die Nachrichtenagentur Anadolu.
Kurdischsprachige Sendungen
Ebenfalls zur Auflage der Europäischen Union gehören anderssprachige Programme wie zum Beispiel Kurdisch, im den elektronischen Medien. Seit 2004 begann man mit einer 30-minütigen Sendung pro Woche im staatlichen Sender TRT.
Ab 2009 soll es nun einen eigenen Kanal in kurdischer Sprache geben, angekündigt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan als Teil eines neuen Ansatzes in der Kurden-Politik.
Örol ist skeptisch: "Die bisherigen kurdischen Sendungen waren nicht sehr erfolgreich. Die Sendezeit war am frühen Morgen, das Programm uninteressant. Auf jeden Fall müsste die Qualität besser werden."
Hayat TV darf wieder senden
Seit dem 8. August darf endlich auch wieder Hayat TV senden. Der alternative türkische Sender mit Sitz in Großbritannien ging erst 2007 über Türksat in der Türkei auf Sendung.
Hayat TV lässt jene zu Wort kommen, die in den Massenmedien nicht gefragt werden: junge Frauen sprechen über Gewalt in der Ehe und Zwangsheirat, Kurden und Türken diskutieren miteinander, gefährliche Arbeitsverhältnisse und Naturverschmutzung werden aufgedeckt.
Von Öffentlichkeit unterstützt
Unter dem Motto "Kanal von Millionen, statt der Millionäre" konnte sich Hayat TV als ein unabhängiger und kritischer TV-Sender, geschaffen von Intellektuellen aus ganz Europa, etablieren.
Im Juli 2008 musste Hayat auf Druck der Medienbehörde RTÜK und des türkischen Innenministeriums schließen: Ihm wurde vorgeworfen, den in der Türkei und seit Juni auch in Deutschland verbotenen kurdischen PKK-nahen Sender Roj TV mit Live-Bildern unterstützt zu haben. Hayat TV wies das zurück.
Dass jetzt doch wieder gesendet werden darf, ist einer starken türkischen und europäischen Öffentlichkeit zu verdanken: Aus ganz Europa bekundeten Persönlichkeiten, Organisationen und Abgeordneten aller Ebenen ihre Solidarität mit dem Sender.
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