Vorurteile, Halbwahrheiten und Missverständnisse
Lexikon der Islam-Irrtümer
Nicht erst seit 9/11 werden wir mit Reportagen, Dokumentationen und harten Fakten über die muslimische Welt bombardiert, aber wissen wir jetzt wirklich mehr über den Islam? Alfred Hackensberger räumt mit Halbwahrheiten und Missverständnissen auf.
8. April 2017, 21:58
Bin Laden war plötzlich eine Ikone für den Kampf gegen den US-Imperialismus, gegen die Diktatoren in muslimischen Staaten, für Gerechtigkeit der unterdrückten Muslime im Namen des Islams – eine Art Erlöserfigur, medial vervielfältigt und Projektionsfläche von lange gehegten Wünschen und Sehnsüchten.
Zahlreiche Untersuchungen bestätigen, dass es mit der Sympathie für Osama Bin Laden lange vorbei ist. Während 2003, also zwei Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York, noch in mehreren islamisch geprägten Nationen rund 50 Prozent der Bevölkerung den Terroristen als vertrauenswürdig einstuften, sieht der überwiegende Teil in ihm heute nichts Positives mehr. Menschen werden wahllos getötet, ohne jede Rücksicht auf Zivilisten oder Religionszugehörigkeit. Darin sehen weltweit die meisten Muslime eine schwere Verletzung der Prinzipien des Islam.
Unabhängige Gruppen
Die Ablehnung der Al-Qaida ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Parteinahme pro USA. Im Gegenteil: Eine klare Mehrheit sieht die Präsenz der US-Truppen im Irak und in Afghanistan nach wie vor als ungerechte Okkupation. Und noch ein weiterer Irrtum im Zusammenhang mit dem "Terrorpaten" wird aufgeklärt.
Osama bin Laden ist nicht der Pate, der Boss, der von seinem Versteck aus in Pakistan dieses Dschihad-Netzwerk dirigiert. Jede Gruppe arbeitet für sich unabhängig und entscheidet eigenständig entsprechend ihrer lokalen Zielsetzungen. Al-Qaida ist eine Organisation, die man mit keiner anderen bekannten Guerilla- und Terrororganisation vergleichen kann.
Parallelen zu den radikalen Linken der 1960er Jahre
Al-Qaida ist ein Markenname für den globalen Kampf gegen die USA und ihre Verbündeten geworden. Jeder, der sich daran beteiligen will, kann sich selbst eine Franchise-Lizenz erteilen. Verbindendes Element ist die radikale Ablehnung des Kapitalismus und seiner angeblichen Pervertierung von Moral, Ethik, Sexualität und vielem mehr.
Dazu kommt, dass westliche Staaten als imperialistische Ausbeuter gesehen werden, so wie einst die Kreuzfahrer in Palästina. Außerdem würden westliche Staaten die Zionisten unterstützen. Gründe genug, um zum heiligen Selbsterhaltungskrieg aufzurufen.
Der Autor entdeckt in der Kulturkritik deutliche Parallelen zu den radikalen Linken der 1960er Jahre, wenngleich die Al-Qaida substanziell natürlich eine religiöse Bewegung ist. Der Kampf für das Gute und Wahre, nämlich die "ideale" Gesellschaft wie zu Mohammeds Zeiten, erinnert frappant an den marxistischen Befreiungskampf und dessen Versprechungen vom goldenen Paradies. Auch hier hatten höhere Ziele Vorrang vor der Menschlichkeit.
Bei Al-Qaida heißt die dehumanisierende Dichotomie nicht Arbeiterklasse und Bourgeoisie, sondern Gläubige und Ungläubige. Zivilisten, die laut Koran eigentlich verschont werden müssten, gibt es nicht mehr. Alle sind Soldaten. Die blutigen Attentate im Irak zeigen, dass diesem Dogma täglich auch Muslime, im wahrsten Sinne des Wortes, geopfert werden.
Kopftuch als Zeichen der Befreiung
Alle Imame sind Männer, die Kaaba in Mekka ist islamischen Ursprungs, das Kopftuch ist ein Zeichen der Unterdrückung - unzählige Vorurteile wie diese kursieren in der westlichen Welt. Doch wer weiß hierzulande schon, dass im Iran, in China und Marokko schon seit mehreren Jahren auch weibliche Imame das offizielle Freitagsgebet vor Frauen leiten und dass die Kaaba schon lange vor dem Islam als Kultobjekt polytheistischer Religionen genutzt wurde?
In die Kopftuch-Debatte bringt Alfred Hackensberger ebenfalls mit zum Teil ungehörten Fakten frischen Wind. Übersehen werde zumeist, so der Autor, dass die Verhüllung des Kopfes und des Gesichtes bei immer mehr muslimischen Frauen nicht mehr als Unterdrückung, sondern als Zeichen der Befreiung und Selbstbestimmung empfunden wird.
Viele Frauen, die bisher nie ein Kopftuch getragen haben, setzen es plötzlich auf. Man will deutlich machen, dass man zu denen gehört, die eine neue, bessere Welt wollen und dabei islamischen Prinzipien folgen. Mit Unterdrückung der Frau, Extremismus, Radikalismus oder sogar Gewalt hat das nichts zu tun.
Frauen im Islam
Hackensberger berichtet von marokkanischen Mädchen in Miniröcken und Kopftüchern, von modernen europäischen Musliminnen, die sich in ihrer afrikanischen Heimat verschleiern, um sich vor begehrlichen männlichen Blicken zu schützen, und von Internet-Shops, die vom Dschihad-Sweatshirt für Kinder bis zu topmodischen Kopftüchern von Stardesignern alles für den neuen Islam-Chic anbieten. Sein Fazit: Das Kopftuch hat eine bemerkenswerte Renaissance erlebt und wurde zum feministischen Statement.
Eine Untersuchung unter 8.000 Frauen in acht überwiegend muslimischen Ländern unterstreicht diese "Umwertung der Werte": Die wenigsten fühlen sich unterdrückt, sondern glauben vielmehr, die gleichen Fähigkeiten wie Männer zu haben. Hilfestellungen oder Lösungen nach westlicher Manier werden aber überwiegend abgelehnt. Vor allem der Begriff der "sexuellen Freiheit" wird nicht als Wert begriffen, weil er mit den Regeln der muslimischen Gesellschaft nicht vereinbar ist. Frauen im Islam setzen hier offenbar selbstbewusst auf das Jahrtausende alte Bild der leidenschaftlichen und Männer-verzaubernden Jägerin.
Trotz aller moderner Berieselung einer internationalen Medienmaschine, die Wertschätzung individueller weiblicher Schönheit hat in muslimischen Ländern kaum nachgelassen. Ob dick oder dünn, groß oder klein, alle Frauen scheinen ihren Reiz bei den Männern behalten zu haben. Einzige Voraussetzung allerdings: Den Frauen muss man ansehen, wie hübsch, einzigartig und begehrenswert sie sich fühlen.
Reise durch die muslimische Welt
Seit über sieben Jahren lebt Alfred Hackensberger mit seiner Familie in Marokko und berichtet als Journalist für zahlreiche namhafte europäische Blätter. Ob Alkohol, Fatwa, Scharia, Taliban oder Märtyrer, zu jedem Schlagwort liefert er schlagfertig Widerlegungen gängiger Vorurteile. Das Ergebnis ist eine spannende Reise durch die muslimische Welt, die auf verblüffend klare, aber niemals unpräzise Weise durch Traditionen, Geheimnisse und scheinbare Widersprüche führt. Ein Lexikon, das auch ein Neustart sein will. Eine Wiederbelebung des einstmals von Neugierde getragenen Dialoges zwischen zwei verschiedenen Kulturen und ein Abgesang an selbstgerechte "perspektivische Verzerrungen".
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Alfred Hackensberger, "Lexikon der Islam-Irrtümer. Vorurteile, Halbwahrheiten und Missverständnisse von Al-Qaida bis Zeitehe", Eichborn Verlag
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http://www.eichborn.com/index.php?id=96&tx_commerce_pi1[showUid=45678|Eichborn-Verlag] - Lexikon der Islam-Irrtümer