Luigi Calabresi, der Karrierepolizist

Der blaue Cinquecento

Luigi Calabresi wurde am 17. Mai 1972 vor seinem Wohnhaus in Mailand erschossen. Wer die Tat ausgeführt hat, weiß man bis heute nicht. Sein Sohn Mario bemüht sich mit seinem Buch um einen Neubeginn ohne Hass und Rache - was allerdings seine Grenzen hat.

Die eine Geschichte erzählt vom Eisenbahner Giuseppe Pinelli aus Mailand, der in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 1969 während eines Polizeiverhörs ums Leben kommt. Er stürzt aus dem Fenster des Polizeipräsidiums. Möglicherweise Selbstmord, sagen die Beamten.

Für die außerparlamentarische Linke ist es glatter Mord. Der Linksaktivist Pinelli sollte der Öffentlichkeit als Drahtzieher des Bombenattentats auf die Banca Nazionale dell'Agricultura an der Piazza Fontana präsentiert werden, bei dem vier Tage zuvor 16 Menschen getötet und über hundert verletzt worden waren. In der Tat spricht die Polizei schon bald von einem Freitod als Schuldeingeständnis. Die Wut der Linken hingegen konzentriert sich auf den jungen Kommissar Luigi Calabresi, der die Verhöre gegen die vermeintlich aus der linksanarchistischen Szene stammenden Bombenleger leitet.

Eine andere Geschichte handelt von eben jenem Luigi Calabresi, dem Karrierepolizisten und Familienvater, der mit vielen Protagonisten der Mailänder Anarchistenszene, auch mit Giuseppe Pinelli, per du ist, der mit dessen Tod nichts zu schaffen hat, nicht zuletzt deshalb, weil er genau weiß, welche Konsequenzen er persönlich zu erwarten hat. Es ist die Geschichte, die dessen Sohn Mario Calabresi erzählt.

Skandalöse Ermittlungen

Luigi Calabresi wurde am 17. Mai 1972 vor seinem Wohnhaus in Mailand erschossen. Wer die Tat ausgeführt hat, weiß man bis heute nicht, obgleich 16 Jahre später vier Männer vor Gericht gestellt und schuldig gesprochen wurden. Doch dieses Verfahren war ebenso skandalös wie die Ermittlungen und Verurteilungen nach dem Bombenanschlag an der Piazza Fontana. Polizei und Justiz wussten in beiden Fällen genau, dass sie die falschen Leute in Gewahrsam hatten. Dennoch wurden diese nicht freigesprochen.

Die Fakten, die zu den so genannten bleiernen Jahren geführt haben und die das innenpolitische Klima in Italien bis heute vergiften, sind verwirrend. Festgehalten sei hier nur so viel: Die Bombe vom Dezember 1969, der noch weitere folgten, sollten einen politischen Umsturz in Italien herbeiführen, und zwar zugunsten der Rechten und der Neofaschisten.

Aus Angst vor einer Regierungsbeteiligung der Kommunisten und einer damit verbundenen möglichen Schwächung Italiens als NATO-Partner, versuchte eine Allianz aus Inlandsgeheimdienst, rechtskonservativen Kreisen aus Wirtschaft und Politik, Organisiert in der Loge "Propaganda Due", sowie US-Geheimdienststrategen, das Land zu destabilisieren. Die Schuld dafür sollte der gerade in den Industriestädten Norditaliens einflussreichen Linken zugeschoben werden.

Land im Delirium

Die Strategie schien vorerst aufzugehen, da Polizei und Justiz mit geradezu hysterischem Eifer und ohne Beweise die Linke kriminalisierte und auf einfache Denunziationen hin Verhaftungen durchführte und lange Haftstrafen verhängte. Unterschätzt wurde dabei die Gewaltbereitschaft einzelner linker Gruppen wie Brigate Rosse, Prima Linea, Lotta Continua und Operaia Organizzata, die ihrerseits mit Vertretern des rechten Establishments abrechneten.

Das Land war im Delirium. Und meine Eltern, ein junges Paar - meine Mutter war Anfang 1970 dreiundzwanzig und mein Vater zweiunddreißig Jahre alt -, vereinsamten immer mehr. Und als sie eines Abends voll spontaner Unternehmungslust zu ihm sagte: "Lass uns doch nach Brera oder zu den Navigli gehen, da ist was los!", entgegnete er bitter: "Lust hätte ich schon dazu, aber nur mit Begleitschutz".

Die Opfer des Terrors

Mario Calabresi, der bei der Ermordung seines Vaters zwei Jahre alt war, möchte nun zu den längst bekannten Fakten die verdrängte Geschichte der Opfer des Terrors der bleiernen Jahre hinzufügen. Stets werde über die Schuld oder Unschuld der Täter oder möglichen Täter berichtet, so Calabresi, und viele von ihnen wie Toni Negri, Erri DeLuca oder Adriano Sofri, der als Anstifter zum Mord an seinen Vater verurteilt wurde, hätten die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge in den größten Medien des Landes zu äußern.

Die Angehörigen der getöteten Polizisten, Leibwächter und Fahrer hingegen haben keine Stimme und sind in der Öffentlichkeit nicht präsent. Stellvertretend erzählt Mario Calabresi über das jäh zerstörte Familienglück, über das Heranwachsen zwischen Wut und Scham und über den Versuch, die Opferhaltung nicht zum Selbstzweck geraten zu lassen. Das bekommt er weitgehend unsentimental hin.

Unbeantwortete Fragen

Dennoch begeht Calabresi einen groben Fehler. Er schildert wohl die wahren Hintergründe des Bombenanschlags an der Piazza Fontana, er stellt zugleich aber keine einzige Frage an seinen toten Vater. Zwar wurde bei der Untersuchung nach dem Tod Giuseppe Pinellis bewiesen, dass Luigi Calabresi im Moment des Fenstersturzes nicht im Zimmer war. Dennoch war Calabresi der verantwortliche Beamte, dem nicht nur das Verhör, sondern auch die Sicherheit Pinellis oblag. Wann zum Beispiel wusste Calabresi, dass Pinelli nichts mit dem Anschlag zu tun haben konnte? Und warum wurde ausgerechnet Calabresi zum Hassobjekt der Linken und nicht seine Vorgesetzten, die ja viel mehr in die unselige Allianz zwischen politischen Interessen und Polizeiarbeit verwickelt waren?

Der junge Kommissar hatte einen äußerst schlechten Ruf, auch wenn nicht alles stimmte, was ihm die linke Presse zuschrieb. War er aber tatsächlich nur der liebende, fürsorgliche Familienmensch, der nichts als Gerechtigkeit wollte, wie Mario Calabresi meint?

Eines Tages gab mir Mama "Die Toten von Spoon River" von Edgar Lee Masters zu lesen, doch bevor sie mir das Buch reichte, erzählte sie mir, Pinelli habe es Papa einmal zu Weihnachten geschenkt. Ich weiß nicht, ob die beiden Freunde waren. Sie standen an unterschiedlichen Ufern, und über Tote soll man nichts Abträgliches sagen. Aber bei uns zu Hause ist Giuseppe Pinelli bestimmt nie ein Feind gewesen.

So unterschiedlich kann die Sicht auf die Welt sein.

Romantisierend und unausgewogen

Man soll dem Sohn das Romantisieren nicht vorwerfen, dem Journalisten, der Mario Calabresi hauptberuflich ist, hingegen schon. Denn wenn Gerichte und Politiker seinen Vater rehabilitiert haben, was so weit ging, dass eine Luigi-Calabresi-Briefmarke aufgelegt und vom Vatikan sogar ein Seligsprechungsverfahren eingeleitet wurde, dann sollte auch das Verfahren und die Verurteilung gegen die vermeintlichen Mörder und Anstifter Sofri, Bompressi, Pietrostefani und Marino zur Sprache kommen. Die hatten zwar publizistisch Anfang der 1970er Jahre den Hass auf den Kommissar geschürt, mit seiner Ermordung hatten sie aber offensichtlich nichts zu tun. Verurteilt wurden sie trotzdem. Ein Umstand, dem Mario Calabresi wenig Bedeutung schenkt.

Kurzum: Mario Calabresis Bemühen um einen Ausgleich zwischen den ehemals verfeindeten Lagern und um einen Neubeginn ohne Hass und Rache hat seine Grenzen dort, wo es gilt, den Frieden mit konkreten Personen zu schließen. Mit Adriano Sofri zum Beispiel, der eine Begnadigung verweigert, weil sie ja einem nachträglichen Schuldbekenntnis gleichkäme. So bleibt Calabresis Buch so unausgewogen wie die von ihm kritisierten Bücher über die bleiernen Jahre, die von ehemaligen Mitgliedern der außerparlamentarischen Linken verfasst wurden.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Mario Calabresi, "Der blaue Cinquecento", SchirmerGraf Verlag

Link
SchirmerGraf Verlag - Der blaue Cinquecento