Uwe Timm über Marga von Etzdorf
Halbschatten
Uwe Timm bleibt auch in seinem neuen Roman seinem Grundthema treu: der deutschen Vergangenheit. Die Geschichte der deutschen Fliegerin Marga von Etzdorf bildet den roten Faden des Romans, es kommen auch andere Tote aus verschiedenen Jahrhunderten zu Wort.
8. April 2017, 21:58
Uwe Timm hat kurz nach der Wende 1990 einen Invalidenfriedhof besucht. Unter all den Militärs, deren Namen er auf den Grabsteinen fand, befand sich auch den Namen einer Frau. "Da war Geburtsdatum, Sterbedatum und man sah, sie war 25 Jahre alt geworden", erzählt Uwe Timm. "Ich habe dann recherchiert; sie war nicht bei einem Absturz ums Leben gekommen, sondern hatte Selbstmord begangen."
So hat sich Uwe Timm in seinem neuen Roman auf die Spuren dieser Frau begeben, auf die Spuren von Marga von Etzdorf, einer Fliegerin, die im Deutschland der 1930er Jahre mit ihren Langstreckenflügen berühmt wurde und sich nach einer Bruchlandung im syrischen Aleppo erschoss. Die Geschichte der Marga von Etzdorf liefert Uwe Timm die Vorlage für eine poetisch-verschachtelte Erzählung.
Die Toten sprechen
Ein Mann geht mit einem Stadtführer über den Invalidenfriedhof in Berlin und hört die Toten aus ihren Gräbern sprechen. Aus vielen verschiedenen Einzelbildern, aus den Berichten der Toten, setzt sich das Porträt der Marga von Etzdorf zusammen. Auch sie selbst kommt zu Wort und erzählt von einer Nacht in Japan, die sie in einem Zimmer mit dem Jagdflieger Christian von Dahlem verbrachte, getrennt nur durch einen dünnen Vorhang. In dieser Nacht sprechen von Dahlem und Marga von Etzdorf über ihre Geschichten, über ihre Träume, vor allem über das Fliegen, ihre gemeinsame Leidenschaft. Von Dahlem ist eine fiktive Figur, die den Roman ausbalanciert.
"Es ist eben ein Roman, der mit bestimmten Fakten umgeht und auch an bestimmten Fakten entlang erzählt", so Uwe Timm im Gespräch, aber ein Roman, der fragt "wie könnte es gewesen sein, mit Wahrscheinlichkeitsformen." Es gehe aber auch um das Begehren, "das Begehren zu fliegen, und auch das Begehren im Erotischen, was eigentlich nicht aufhört Begehren zu sein, sondern bleibt. Es kommt kein Gelingen, kein Haben."
Geschichte über Geschichte
Es ist keine richtige Liebesgeschichte, die Uwe Timm erzählt, vielmehr eine Geschichte über die Geschichte, über ihre Relativität, über nachträgliche Deutungen und Wahrscheinlichkeiten. "Wir können ein wenig auswählen", heißt es in dem Roman, "vielleicht ein wenig Licht bringen, einen Halbschatten, ein Zwielicht". Geschichte ist nicht stringent, meint Uwe Timm, sondern wird erst nachträglich stringent gemacht:
"Mich interessieren die Ereignisse, also das, was sozusagen festzumachen ist in Erzählungen, mich interessieren aber auch Strukturen. Die Strukturen kann man nicht so leicht reinbringen, die sind sozusagen das Grundierte, was ich als Haltung des Schriftstellers beschreiben würde."
Ein Panorama an Stimmen
Uwe Timm bleibt auch in seinem neuen Roman seinem Grundthema treu: der deutschen Vergangenheit. Während die Geschichte der Marga von Etzdorf den roten Faden des Romans bildet, kommen auch andere Tote aus verschiedenen Jahrhunderten zu Wort, etwa Gerhard von Scharnhorst, der General aus den Befreiungskriegen, Reinhard Heydrich oder ein namenloser japanischer Dolmetscher.
Jeder erzählt etwas, was ihn damals angetrieben hat, "und so bekommt man vielleicht ein Panorama der Stimmen, Verhaltensweisen, Beobachtungsweisen, aber vor allen Dingen unterschiedlichen Sprachen auch", so Timm.
All diese Stimmen bilden so etwas wie ein großes Oratorium, einen Kanon der verschiedensten Zeiten und Geschichten, Ansichten und Einsichten. Die Konstruktion des Romans hat Uwe Timm denn auch einige Schwierigkeiten bereitet, erzählt er:
"Die richtige Struktur, die richtige Reihenfolge in dieser Montagetechnik zu finden, das war eine lange Arbeit, da habe ich 15 Fassungen gemacht - und zwar durchgeschrieben. Das hat sich immer sehr verändert, ist mal größer, mal weniger groß geworden, also diese Struktur ist kompliziert, aber doch, denke ich, verständlich."
Wie weit darf man gehen?
Eine endgültige Erklärung für den Selbstmord der erst 25-jährigen Marga von Etzdorf liefert Uwe Timm natürlich nicht, aber einen Erklärungsansatz: Wahrscheinlich war sie in Waffengeschäfte verwickelt, hatte möglicherweise sogar einen Spionageauftrag, der nach ihrer Bruchlandung in Aleppo aufgeflogen wäre.
"Das Interessante an dieser Figur ist ja gerade, dass das so eine ganz aufrechte Frau war", so Timm, "auch mit Idealen, und die aber dann so in ihrer Leidenschaft zu fliegen hineinverwickelt wurde, dass sie plötzlich auch Dinge machte, die nicht korrekt waren. Das ist zunächst mal gar nicht so spektakulär, dieser Übergang ist fließend. Plötzlich ist es aber doch sehr fragwürdig und in dem Moment, wo sie die Crashlandung macht, wäre das auch rausgekommen. Das ist ein möglicher Grund für den Selbstmord."
Und so wirft der Roman nicht zuletzt die Frage auf, wie weit man für seine Leidenschaft gehen darf und an welchem Punkt man Gefahr läuft, seine eigene Seele zu verkaufen.
"Wie ein Musikstück"
Es ist ein vielschichtiges und sehr kluges Buch, gleichzeitig spannend und nachdenklich, ein Buch der leisen Töne, die sich zu einem großen und eindrucksvollen Ganzen vereinen. Und es ist ein Buch, das man, so Uwe Timms Empfehlung, am besten ohne Unterbrechung lesen sollte. Das sei "wie ein Musikstück, aus einem Oratorium kann man auch nicht rauslaufen und drei Tage später an der Stelle wieder reinhören. Man sollte wirklich versuchen, in einem Rutsch durchzulesen, damit man auch diese Vielstimmigkeit zuordnen kann."
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 29. August 2008, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 31. August 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Uwe Timm, "Halbschatten", Kiepenheuer und Witsch
Links
Wikipedia - Marga von Etzdorf
Kiepenheuer und Witsch - Uwe Timm