Unbegrenzte Möglichkeiten
Lernen und entwickeln
Die Maßstäbe der Bildungsinstitutionen haben sich in den vergangenen 70 Jahren geändert. Begriffe wie Zucht und Ordnung wurden ersetzt durch Schlagworte wie Chancengleichheit oder kindgerechte Erziehung. Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?
8. April 2017, 21:58
Für den Neurobiologen Gerald Hüther von der Universität Göttingen werden wir Menschen mit einem weitaus reicheren Reservoir an Möglichkeiten ausgestattet, als wir tatsächlich ausschöpfen. Gerald Hüther: "Das kindliche Gehirn ist plastisch, die Netzwerke sind nicht vorgefertigt. Das bedeutet, dass Kinder mit einer schier unbegrenzten Möglichkeit an Verknüpfungen zur Welt kommen. Kinder sind darum formbar, aber auch verformbar."
Damit Kinder ihre Potenziale entfalten können, sollen sie nicht unterrichtet werden, meint Gerald Hüther. Die Erwachsenen sollen sie einladen, Entdeckungen zu machen. Diese selbst erworbenen Erkenntnisse werden dann im Hirn als Erfahrung verankert.
Innerer Bauplan der Seele
Diese Erkenntnisse der modernen Hirnforschung wurden von Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts empirisch erprobt. So schreibt die 1870 in Ancona geborene Ärztin Maria Montessori in ihrem Werk: "Über die selbständige Erziehung im frühen Kindesalter", hier übersetzt von Rita Kramer:
In Wirklichkeit trägt das Kind den Schlüssel zu seinem rätselhaften individuellen Dasein von Anfang an in sich. Es verfügt über einen inneren Bauplan der Seele und über vorbestimmte Richtlinien für seine Entwicklung. Das alles aber ist zunächst äußerst zart und empfindsam, und ein unzeitgemäßes Eingreifen des Erwachsenen mit seinem Willen und seinen übertriebenen Vorstellungen von der eigenen Machtvollkommenheit kann jenen Bauplan zerstören oder seine Verwirklichung in falsche Bahnen lenken.
Was bedeuten diese pädagogischen Erkenntnisse aber für die Eltern? Schulischer Leistungsdruck und ein durchorganisiertes Freizeitprogramm fördern die Unselbständigkeit der Kinder. Freiräume, in denen sie selbst gestalten können, sind knapp geworden. Gleichzeitig sind viele Kinder früh auf sich selbst gestellt, da ihre Eltern den Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht werden müssen. Schließlich geht es um die ökonomische Basis der Familien.
Lernen über Beziehung
Den widersprüchlichen und auch familienfeindlichen Bedingungen können Eltern entgegenwirken, indem sie sich bewusst um das Kind bemühen. Sie müssen eine Balance herstellen zwischen Autonomie geben und in Beziehung treten, meint Gerald Hüther, denn keine Methode, keine Didaktik, kein psychologischer Ratgeber kann die Beziehungsarbeit ersetzen, die zwischen Erwachsenen und Kindern stattfinden sollte. Wissen, Erkenntnisse und Erfahrungen werden über die emotionale Beziehung zum Kind transportiert. Es ist die Begeisterungsfähigkeit des Erwachsenen, sein Engagement und seine Anteilnahme, die das Kind mit dem Neuen, Wissenswerten verbindet.
Eltern sollten ihren Kindern Sicherheit vermitteln. Sie müssen klare Strukturen entwickeln, in denen die Kinder leben und lernen können. Diese Souveränität müssen sich Eltern aber oft erwerben. Und gerade am Beginn der Eltern–Kind-Beziehung, bei der Geburt des ersten Kindes, gerät die Welt aus den Fugen. Denn selbst in einer gut funktionierenden Partnerschaft werden die Karten neu gemischt. Die bewährten Rollenverteilungen funktionieren nicht mehr.
Geborgenheit und Klarheit
Diese Veränderungen lösen bei den Partnern Stress aus und führen oft zu Streit. In einer Atmosphäre von Spannungen und mehr oder weniger heftig geführten Wortgefechten geraten Kinder jedoch in einen Interessenskonflikt: Wie und wo sollen sie sich positionieren? Sie spüren, dass sie für diesen Streit ursächlich sind und entwickeln Schuldgefühle. Ihr Bedürfnis nach Zuneigung und Liebe zu den Eltern bleibt unerfüllt und sie ziehen sich zurück.
Die Qualität der Paarbeziehung ist für das Wohlbefinden des Kindes von entscheidender Bedeutung. Nur wenn die Eltern eine gemeinsame Richtung finden, helfen sie dem Kind, sich in der Gesellschaft zu orientieren.
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Radiokolleg, Montag, 8. September, bis Donnerstag, 11. September 2008, 9:05 Uhr