Jorge Semprún und sein Jahrhundert

Von Treue und Verrat

Franziska Augsteins Buch ist keine Biografie im üblichen Sinn, es ist eine Annäherung an den spanischen Autor Jorge Semprún, die nicht auf einen peniblen Abgleich von Literatur und Leben aus ist, sondern auch ein Porträt seiner Zeit zeichnet.

Im Jahr 2001 erschien sein viertes Buch über Buchenwald. In "Der Tote mit meinem Namen" schrieb der ehemalige KZ-Häftling Jorge Semprún über die Grausamkeiten des Lagers, die menschlichen Entwürdigungen und das glückliche Überleben durch den Namenstausch mit einem Sterbenden. Ein moribunder Typhuskranker, auch er als französischer Widerstandskämpfer in Buchenwald gelandet, schenkt durch seinen Tod dem Ich-Erzähler das Leben. "Dieser lebende Tote war ein junger Bruder", schreibt Jorge Semprún," vielleicht mein Doppelgänger: ein anderes Ich oder ich selbst als ein anderer (...), die existenzielle Identität, wahrgenommen als Möglichkeit, ein anderer zu sein (...)".

"Der Tote mit meinem Namen" - ein authentischer Bericht? Ein autobiografisches Dokument? Trug nicht der Autor dieselbe Häftlingsnummer wie der Erzähler? Aber hat Semprún nicht selbst eingeräumt, die Erzählung eines anderen benutzt zu haben? Was Fakt ist, was Fiktion, was auf eigenen, was auf geborgten Erfahrungen basiert - nicht nur in diesem Buch Semprúns ist es schwer auseinanderzuhalten.

Semprún: "Alles sind Fakten, auch was ich erfunden habe, sind Fakten. Auch in meinen autobiografischen oder Erinnerungsbüchern gibt es zwischen Realität und Fiktion ein dialektisches Spiel."

Vervielfältigung der Erinnerungen

"Semprúns Leben ist der Stoff seiner Romane. Indem er schreibend reproduziert, vertieft und vervielfältigt er seine Erinnerungen", erklärt Franziska Augstein in ihrer Annäherung an den großen, überwiegend französisch schreibenden Schriftsteller spanischer Herkunft. Einer Annäherung, die nicht auf einen peniblen Abgleich von Literatur und Leben aus ist, sondern darauf, im Porträt Semprúns auch ein Porträt seiner Zeit zu zeichnen. In ihrem Buch mit dem Titel "Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert" nennt sie den Autor, der immer wieder über sich schrieb und seine verschiedenen Identitäten, den "Herrn seiner Biografie".

"Ich habe ihn kennengelernt im Jahr 2002 anlässlich einer Fernsehsendung, wo es um sein neu erschienenes Buch 'Der Tote mit meinem Namen' gehen sollte", erzählt Franziska Augstein im Gespräch. "Ich hatte bis dahin so gut wie nichts von ihm gelesen und habe dann in kurzer Zeit mir zehn Bücher reingezogen. Und fand diese Bücher faszinierend. (...) Ich wollte wissen, wer er ist, und nicht, was exakt in seinen Büchern dargestellt ist."

Mann mit vielen Masken

Jorge Semprún - ein Sohn aus bürgerlichem Haus, ein Exilant und Widerstandskämpfer, KZ-Häftling und Kommunist, Geheimdienstler, Schriftsteller, Drehbuchautor und Kulturpolitiker. Ein Mann mit vielen Rollen, Maskierungen und Pseudonymen, der als Jacques Grador durch die Weltgeschichte geisterte, als Rafael Artigas, Juan Larrea, Rafael Bustamente und immer wieder als Federico Sánchez. Ein europäischer Intellektueller par excellence, eine moralische Instanz, eine charismatische Persönlichkeit. "Er ist nach wie vor jemand, der jeden, der ihn trifft, begeistert", meint Augstein.

Geboren am 10. Dezember 1923 in Madrid, entstammt Jorge Semprún einer kinderreichen großbürgerlichen Familie. Der Vater, ein Juraprofessor und Republikaner, wurde später Zivilgouverneur, die Mutter, Tochter eines spanischen Ministerpräsidenten, war wohlhabend und besaß Kontakte zur Krone. Der von deutschen Gouvernanten erzogene Jorge wollte schon früh Schriftsteller werden, Schriftsteller oder Philosoph. Doch zunächst widmete er sich dem antifaschistischen Widerstand.

"Nichts noch böser machen, um eindrucksvoll zu sein"

Im Pariser Exil schloss sich Semprún der Resistance und der Kommunistischen Partei an. Mit 19 wurde er von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach Buchenwald deportiert; dort beteiligte er sich am lagerinternen Widerstand und traf renommierte französische Intellektuelle - und die Frauen seines Lebens.

Nach der Befreiung arbeitete Semprún für die UNESCO als Übersetzer, später für die spanischen Exil-Kommunisten. Die Partei schickte ihn Anfang der 1950er Jahre als Agent zurück in seine Heimat. Als Federico Sanchez wurde Semprún einer der meistgesuchten Männer Spaniens. Im Rückblick nennt er die Jahre im Madrider Untergrund das "größte Vergnügen" und die "gelungensten meines Lebens".

Obwohl ein überzeugter Kommunist, der eine bessere Gesellschaft nur durch eine Revolution, eine Revolution nur durch revolutionäre Gewalt und das Ganze nur unter der Federführung der Partei herbeizuführen glaubte, obwohl dazu bereit, Freundschaften der Parteiräson unterzuordnen, wurde er 1964 "exkommuniziert" - wegen "parteischädigenden Verhaltens". Dieser Ausschluss traf ihn wie ein Schlag. Semprúns politische Karriere war vorerst beendet, seine literarische konnte beginnen. Den Anfang macht sein - schon vor dem Parteiausschluss veröffentlichtes - Erinnerungsbuch "Die große Reise".

Semprún: "Wenn ich 'Die große Reise' schreibe, bin ich im Waggon nach Buchenwald mit einem jungen Franzosen - den habe ich erfunden. Die Reise habe ich allein gemacht. Ich habe die Figur erfunden, um nicht allein zu sein. Für mich gibt es nur eine moralische Grenze, vor allem in den Büchern, wo von den Lagern gesprochen wird. Diese ist: nichts zu erfinden im Sinne des Terrors, des Leidens, nichts noch böser machen, um eindrucksvoll zu sein. Ich habe nie etwas über Buchenwald geschrieben, das nicht faktuell wirklich war."

Erfindung und Erinnerung gemischt

Jorge Semprún, der, wie Franziska Augstein schreibt, lange Zeit an Stalins Genie keinen Zweifel hegte, der noch 1969 insistierte, "Ich bin kein ehemaliger Kommunist. Ich bin Kommunist", um schließlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum großen Rundumschlag auszuholen und zu verkünden, es finde sich "keine einzige geschichtliche Situation, in der die sogenannte 'linke' Politik nicht Unheil über Unheil heraufbeschworen hätte", dieser Jorge Semprún macht es mit seinem politischem Gesinnungswandel dem Biografen nicht leicht: ein verbitterter Linker? ein selbstgerechter Provokateur? ein zynischer Renegat? Augstein verneint - und verortet Semprún in einem liberalistischen Revisionismus.

Die Erfahrungen in Buchenwald, die Erlebnisse im spanischen Untergrund, die Auseinandersetzungen mit der Kommunistischen Partei - immer wieder hat Jorge Semprún in seiner Literatur auf seine Biografie zurückgegriffen, hat präzise Erfindung mit genauer Erinnerung gemischt, assoziatives Erzählen mit minutiösem Zeugenbericht, und dabei Werke geschaffen von hohem literarischem Rang. Dennoch behauptet er, kein Schriftsteller zu sein.

"In der Tat ist es so, dass er sich keine Charaktere ausdenken kann, die andere Menschen wären als er selbst", meint Augstein. "Und das unterscheidet ihn von den großen Schriftstellern, die er bewundert - Faulkner oder Dostojewskij beispielsweise, die Kosmen erfunden haben, bevölkert von ganz verschiedenartigen Menschen. Das kann er nicht. Das liegt daran, dass er bei allem, in dem Moment, wo er anfängt sich an einen Tisch zu setzen und zu schreiben, immer wieder zurückgeworfen wird auf das, was er empfunden hat, was ihn beeindruckt hat. Und daneben gibt es keine Welt."

Zahlreiche Gespräche geführt

Die Welt des Jorge Semprún ist das Thema von Franziska Augstein, und die will sie nicht getrennt sehen von ihrer eigenen Welt, der eigenen Herkunft, der deutschen Geschichte. So kontrastiert sie Semprúns Entwicklung mit anderen Biografien. Den jeweiligen Kapiteln vorangestellt sind Zitate ihres Vaters, des "Spiegel"-Gründers und ehemaligen Hitler-Jungen Rudolf Augstein, ihres Großvaters, der als Mitglied der Legion Condor putschende Generäle in Francos Spanien unterstützte, aber auch Äußerungen von Egon Bahr, von Ralph Giordano oder Kurt Julius Goldstein.

Die eingestreuten Bekenntnisse wirken freilich etwas beliebig und machen das Buch, das sich ansonsten durch wohltuende Sachlichkeit und große Differenziertheit auszeichnet, stellenweise langatmig. Augstein hat die Zeitgeschichte gründlich recherchiert und viele Gespräche geführt, nicht nur mit Jorge Semprún, auch mit dessen Geschwistern und Weggefährten von früher, und die Originalton-Passagen zählen zu den stärksten dieses respektvollen Porträts, das freilich nicht alle Lebensabschnitte in der gleichen Ausführlichkeit präsentiert und leider auch die Filmarbeit Semprúns kaum referiert.

Service

Franziska Augstein, "Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert", Verlag C. H. Beck

C. H. Beck - Von Treue und Verrat

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