Gedichte nicht nur für Romantiker
Lyrik im November
Wer nimmt heute noch bei Kerzenschein einen Gedichtband zur Hand? Wenn also der (moderne) Mensch nicht zum Gedichte kommt, muss das Gedicht zum Menschen kommen. Genau das wird Ö1 zusammen mit "Der Standard" den ganzen November lang tun.
8. April 2017, 21:58
Vor Jahren versuchten wir einmal im Rahmen einer Straßenbefragung zu erheben, welche und wie viele Gedichte der sogenannte Mann auf der Straße, der natürlich auch eine Frau sein durfte, auswendig mit sich trägt. Das Ergebnis war, gelinde gesagt, niederschmetternd.
Vom Reimen im Kleinen
Das berühmte Morgenstern'sche "Rehlein" faltete nicht ein einziges Mal die "Zehlein" und auch das nicht minder bekannte "Wiesel" saß weder auf einem "Kiesel" und schon gar nicht "inmitten Bachgeriesel". Man kannte weder den Rilke'schen "Panther" (ja, der, dessen "Blick" vom "Vorübergehen der Stäbe" schon "so müd geworden" ist, dass er "nichts mehr hält"), noch ließ sich den Befragten eine einzige Zeile von Erich Kästner, Erich Fried oder von Ernst Jandl entlocken. Allenfalls ältere Herren in steifen, weißen Krägen und mit proper gebundenen Krawatten hatten noch ein wenig Schiller parat, zwei, drei Zeilen von Goethe oder was Lustiges von Eugen Roth.
Selbst die Ausweitung der Fragestellung auf Reime und Verse aller Art förderte nur gelegentlich einen gereimten Werbespruch, einen Schüttelvers, einen Sinnspruch oder, vor allem bei aktiven Müttern, einen Auszählreim zutage. Literaturredakteure, so viel stand bald fest, haben falsche Vorstellungen im Kopf. Lyrik ist was für Gymnasialprofessoren, für unheilbare Romantiker oder für hoch spezialisierte Germanisten.
Gut, wertvoll und manchmal auch nützlich
Verleger können endlos klagen über die Tatsache, dass Lyrik sich geschäftlich nicht lohne und es nur mehr ganz ganz wenige Dichterinnen und Dichter gäbe, mit deren Gedichtbänden sich wenigstens die Produktionskosten decken ließen. Aber wer, seien wir mal ehrlich, nimmt heute noch des Abends bei Kerzenschein einen Gedichtband zur Hand; wer sucht noch Rat und Trost oder gar Erleuchtung in dieser hermetischen Welt der Verknappung und Verdichtung; wer findet es noch lohnend, rätselhafte Sprachbilder zu entschlüsseln, um sich so einen Tunnel zur eigenen Seele zu graben?
Wenn man nun, trotz alledem, davon ausgeht, dass Lyrik gut, wertvoll und gelegentlich auch nützlich ist, muss man dafür sorgen, dass Gedichte überraschend um die Ecke biegen. Wenn schon der (moderne) Mensch nicht zum Gedichte kommt, muss das Gedicht zum Menschen kommen. Überraschend, unangekündigt, ohne die Möglichkeit auszuweichen.
Genau das wird Ö1 in den ganzen November lang tun. 24 Tage lang, jeweils von Montag bis Samstag, sendet Ö1 außerhalb der gewohnten Literatur- und Lyrikreihen dreimal täglich Gedichte.
Drei Gedichte am Tag
"Der Standard" druckt, ebenfalls quer über das Blatt verstreut, dieselben Gedichte ab, die in Ö1 gesendet werden. Jeder einzelne Tag wird einer einzelnen zeitgenössischen österreichischen Dichterin oder einem Dichter gewidmet sein. Vorgetragen werden die Werke von ihren Schöpferinnen und Schöpfern selbst.
Das Los entscheidet
Die Reihenfolge folgt keinem System und keiner Hierarchie. Dem Titel des Gesamtprojekts - "Wurfgedichte" - entsprechend, hat das Los über den jeweiligen Sendetag entschieden.
3. November 2008: Ilse Aichinger
4. November 2008: Robert Schindel
5. November 2008: Dominik Steiger
6. November 2008: Stefan Schmitzer
7. November 2008: Franz Josef Czernin
8. November 2008: Michael Donhauser
10. November 2008: Stephan Eibel Erzberg
11. November 2008: Friedrich Achleitner
12. November 2008: Peter Waterhouse
13. November 2008: Sonja Harter
14. November 2008: Benedikt Ledebur
15. November 2008: Ferdinand Schmatz
17. November 2008: Elfriede Gerstl
18. November 2008: Ernst David
19. November 2008: Oswald Egger
20. November 2008: Gerhard Rühm
21. November 2008: Brigitta Falkner
22. November 2008: Anselm Glück
24. November 2008: Axel Karner
25. November 2008: Marie-Thérèse Kerschbaumer
26. November 2008: Julian Schutting
27. November 2008: Ann Cotten
28. November 2008: Gert Jonke
29. November 2008: Friederike Mayröcker
Eine gemeinsame Aktion von Österreich 1 und Der Standard
Hör-Tipp
Wurfgedichte, Montag bis Samstag, 3. bis 29. November 2008, jeweils um 8:15, 13:00 und 19:29 Uhr
Übersicht
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