Minderheiten in der Türkei
Der Bonbonpalast
Elif Shafak ist die international bekannteste türkische Autorin. In ihrer Heimat sind ihre sechs Romane allesamt Bestseller. In ihrem aktuellen Roman sind alle Personen Suchende, Entwurzelte, und sie alle sind der Macht des Schicksals ausgeliefert.
8. April 2017, 21:58
Istanbul sei eine Stadt, in der die Lebenden den Toten sehr nahe seien, hat Elif Shafak einmal gesagt. Und so lässt sie ihren jüngsten Roman, "Der Bonbonpalast" mit der Räumung zweier Friedhöfe in Istanbul beginnen. Armenisch-orthodoxe und muslimische Gräber müssen der sich ausdehnenden Stadt weichen. Die meisten muslimischen Angehörigen lassen ihre Toten umbetten, die armenischen Verwandten müssen sich von ihnen endgültig verabschieden, da für ihre Toten nirgendwo mehr Platz ist. Shafak steigt also mit einem wichtigen Thema in ihr Buch ein: dem Thema der Minderheit.
So ist das nun einmal. Das Unglück der Minderheiten liegt nicht im zahlenmäßigen Abstand zur Mehrheit, sondern in der ähnlichen Beschaffenheit. Als Angehöriger einer Minderheit können sie sich wie eine Minderheit abrackern, einen großen Treffer landen oder ein Vermögen machen, doch am Ende werden Sie wieder mit Leuten in denselben Topf geworfen, die ihr Leben lang auf der faulen Haut gelegen und nichts zustande gebracht haben - nur weil sie zur selben Gemeinschaft gehören und immer gehören werden. Deshalb sind die wohlhabenden Angehörigen einer Minderheit nie wohlhabend genug und die Einflussreichen nie einflussreich genug.
Bunte Hausgemeinschaft
An die Stelle der Friedhöfe baut in den 1960er Jahren ein alter russischer Adeliger seiner nervenkranken Frau kurz vor deren Tod einen Palast, den Bonbonpalast. Seinen Namen verdankt das Haus der Farbenfrohheit seiner ehemaligen Besitzerin. Als diese nämlich von ihrem Gatten Bonbons geschenkt bekommt, beginnt sich ihr Leben wieder mit Farbe zu füllen. Nach dem Tod des russischen Ehepaares verkümmert der Bonbonpalast und wird das mehr schlechte als rechte Zuhause von zehn Familien. Deren Alltag beschreibt Shafak mit psychologischem Gespür und Liebe fürs Detail.
Da wären Cemal und Celal, zwei Zwillingsbrüder, die einen Friseurladen im Bonbonpalast betreiben, in dem tagaus tagein getratscht wird; oder die Parfüm liebende blaue Mätresse, die abends ihren Liebhaber, den Olivenhändler bekocht, die Putzfanatikerin Hygiene-Tijene und ihre Tochter Su, Tantchen Madam, die es nicht übers Herz bringt, Dinge wegzuschmeißen, eine ehemalige Insektenforscherin, die von ihrem Mann betrogen wird und Kartoffellampen baut, und der namenlose Ich-Erzähler, ein Universitätsprofessor, der nach seiner Scheidung dem Alkohol verfallen ist.
Ich bin vor zwei Monaten und fünf Tagen hier eingezogen. Inzwischen habe ich gelernt, dass sich Zeit genauso zählen lässt wie Münzen. Ich zähle jeden Tag, der vergeht. Eigentlich sollte ich mich inzwischen eingerichtet haben, doch davon kann keine Rede sein. Ich lebe immer noch so, als würde ich jeden Moment meine Sachen packen und verschwinden. Seit meinem Einzug hat sich hier nicht viel getan. Ich lebe provisorisch und sparsam zwischen gestapelten Kisten, manche noch geöffnet, eine Ordnung, so vergänglich wie Raumspray oder ein Legohaus, das man jederzeit auseinandernehmen und woanders wieder zusammenbauen kann.
Tradition, Identität und Glaube
Seine Rastlosigkeit hat der namenlose Ich-Erzähler mit den anderen Bewohnern gemeinsam. Sie alle sind Suchende, Entwurzelte, und sie alle sind der Macht des Schicksals und des Aberglaubens ausgeliefert. Shafak knüpft damit an ihre Hauptthemen Tradition, Identität und Glauben an. Wenn schlechte Wünsche ausgesprochen werden, werden sie in ihrem Roman bald zum Verhängnis.
Bekannt ist die Autorin für ihre märchenhafte mystische Erzählweise, die dennoch aktuell brisante Themen nicht außen vorlässt. Sie versteht es, die verschütteten traditionellen, historisch kulturellen Werte der Türkei mit einem neuen Verständnis zutage zu fördern. Provokation und Enttabuisierung bedeuten bei ihr nicht eine pompöse und plastische Persiflage, vielmehr verhandelt sie das Globale im Lokalen. Als der Ich-Erzähler des Müllgestanks Herr werden will und die Botschaft an die Wand sprayt, dass unter dieser Erde ein Heiliger begraben sei, meint der Friseur Cemal:
"Hier in der Türkei ist alles möglich. Der Westen hat den Mond erobert, wird demnächst den Mars unter sich aufteilen und Menschen klonen. Und wir, was machen wir? Wir finden Heilige in unseren Gärten. Als ob Heilige wie Blumen aus der Erde wüchsen, wenn man sie nur gießt. Und dann fragen wir uns allen Ernstes, warum die EU uns nicht will. Warum sollte sie? Vielleicht fragt sie nach, wenn Europa mal einen Heiligen braucht."
Jeder Person ihre Geschichte
Die Lebensgeschichten der Bewohner des Bonbonpalasts beginnen sich ineinander zu verweben. Der Ich-Erzähler freundet sich mit der blauen Mätresse an und gibt dem Nachbarskind Nachhilfeunterricht, und die kleine Su ist bei Tantchen Madam zu Gast.
An den raschen Perspektivenwechsel gewöhnt man sich schnell. Jede Person, die einmal erwähnt wird, bekommt eine Geschichte und somit ein Gesicht. Elif Shafak hat in Interviews an den türkischen Romanciers bemängelt, dass sie einen zähen Stil hätten und auf ideologische Belehrung setzen würden. Dem an sie selbst daraus hervorgehenden Anspruch kommt sie nach: Sie schreibt fließende Geschichten, die dem Leser und der Leserin Raum für Eigeninterpretation lassen.
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"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 3. Oktober 2008, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 5. Oktober 2008, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Elif Shafak, "Der Bonbonpalast", aus dem Türkischen übersetzt von Eric Czotscher, Eichborn Verlag
Link
http://www.eichborn.com/index.php?id=191&tx_bieasy[autorSingle=82761|Eichborn Verlag] - Elif Shafak