Familie Wagner im Kontext
Der Wagner-Clan
Jonathan Carrs "Der Wagner-Clan" beginnt zeitlich bei der Geburt des Komponisten Richard Wagner 1813 und führt bis in die jüngste Vergangenheit. Es fasziniert, wie der Autor Widersprüchlichkeiten und beschönigende Beschreibungen aufdeckt.
8. April 2017, 21:58
Vor einem Monat ist die Entscheidung gefallen: Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, die Halbschwestern aus den beiden Ehen von Wolfgang Wagner, dem Langzeit-Leiter der Bayreuther Festspiele, übernehmen die Leitung des deutschen Traditionsfestivals auf dem Bayreuther "Grünen Hügel".
Damit ist eine lange Diskussion um die Führung der "Mutter aller Festspiele der Neuzeit", wie das Bayreuther Unternehmen fraglos genannt werden darf, vorerst zu einem Ende gekommen - die Streitigkeiten zwischen den Familienlinien der Wagners dürften damit aber in keiner Weise beendet sein; auch Nike Wagner, die Tochter von Wolfgangs Bruder Wieland, dem genialischen Neuerer von Bayreuth nach dem zweiten Weltkrieg, hatte sich beworben - wurde aber ausgebootet und sprach postwendend von einer "befremdlichen Prozedur".
Familienstreitigkeiten
Dass ein nicht zum Zuge gekommener Kandidat beziehungsweise eine Kandidatin, eine solche Entscheidung kritisiert, daran ist nichts Ungewöhnliches zu finden - und schon gar nicht, wenn man im speziellen Fall die Familienstreitigkeiten vor dem Hintergrund der Familiengeschichte der Wagners betrachtet. So gesehen wäre es geradezu ungewöhnlich und überraschend gewesen, wenn dieses Mal eine Entscheidung in vollkommener Familienharmonie gefallen wäre. Denn - hat es nicht schon immer Auseinandersetzungen um die jeweilige Leitung der Bayreuther Festspiele gegeben, wurden nicht immer schon, bestimmte Personen, die durchaus berechtigte Ansprüche hätten geltend machen können, unterdrückt, zum Schweigen gebracht oder ins Abseits gedrängt.
Das war nicht anders, als Siegfried Wagner, der Komponistensohn, die Leitung nach Cosima Wagner, der Witwe übernommen hatte - und sollte sich auch ähnlich wiederholen, als Winifred Wagner, Gattin von Siegfried an die Spitze kam, viele Jahre später die Wiederbelebung der Festspiele unter den Komponisten-Enkeln Wieland und Wolfgang erfolgte und schließlich nach Wielands frühem Tod die Leitung auf den alleinigen Langzeit-Herrscher Wolfgang überging.
Hervorragende Übersetzung
Dieses und viel mehr ist seit kurzem in einem höchst amüsant und durchaus spannend geschriebenen Buch von Jonathan Carr, erschienen bei Hoffmann und Campe in Hamburg in einer hervorragenden Übersetzung aus dem Englischen von Hermann Kusterer, nachzulesen: "Der Wagner-Clan, Geschichte einer deutschen Familie" beginnt zeitlich bei der Geburt des Komponisten Richard Wagner 1813 und führt bis in die jüngste Vergangenheit - in einem Postskriptum konnte der inzwischen verstorbene britische Autor noch kurz vor seinem Tod, sogar noch den definitiven Rücktritt von Wolfgang Wagner als Leiter der Bayreuther Festspiele berücksichtigen.
Was der Autor, seines Zeichens langjähriger Auslandskorrespondent der Financial Times und Biograph von Deutschlands Altbundeskanzler Helmut Schmidt aber auch des Komponisten Gustav Mahler - und dazu erklärter Wagner-Liebhaber auf über 450 Textseiten ausgebreitet hat, ist eine Familiengeschichte, die jeden erfundenen TV-Familien-Clan in den Schatten stellt. Ja man fragt sich geradezu, wieso die Wagner-Familiengeschichte noch nicht für eine Fernsehfortsetzungsserie oder sogar ein Musical ausgeschlachtet wurde. Da geht es um Intrigen, Lügen, Vertuschungsaktionen, Betrug und Verrat - um tabuisierte Homosexualität, Frauengeschichten, verschwundene Schmuckstücke und zensierte, bis heute weggesperrte Dokumente - es geht um Kaiser und Könige, Führer und Bundespräsidenten - um Rassenwahn, Nazis, Linksintelektuelle - und natürlich um das künstlerische Vermächtnis eines Komponistengenies.
Entwicklungen im politischen Kontext
Das Meiste davon, das sei nicht verschwiegen, hat man schon in anderen mehr oder weniger zugänglichen Veröffentlichungen gelesen, gerade die Wagner-Familie ist ja dokumentiert wie sonst kaum eine deutsche Familie. Und doch fasziniert die Art wie Jonathan Carr das vorhandene Material zusammengestellt hat, wie er auf Widersprüchlichkeiten, insbesondere in den Veröffentlichungen des Meisters selbst, aber auch in beschönigenden oder auch dramatisierenden Beschreibungen seiner Nachfahren hinweist und diese aufdeckt - und wie er vor allem all die Entwicklungen in und um die Familie Wagner im zeitlichen Kontext betrachtet, gesellschaftlich und politisch gesehen.
Wagners in keiner Weise eine klare Linie verfolgende antisemitische Äußerungen wird der kritisch hinterfragende Leser auch nach der Lektüre dieses Buches weiterhin als abstoßend erachten, vor dem prägnant dargestellten politischen Hintergrund erscheinen sie aber in einem anderen Blickwinkel. Und wie mit diesem Vorurteil räumt Carr auch mit einer anderen gerne kritiklos replizierten Meinung auf, nämlich, dass die Nazis Wagner glorifiziert hätten - ganz im Gegenteil fanden viele Nazis die langatmigen Dramen schlicht und einfach sterbenslangweilig. Und mit der ideologischen Einordung der Werke in ihr System hatten die Nazis ohnehin enorme Schwierigkeiten.
Plädoyer für "neue Ehrlichkeit"
Jonathan Carr kritisiert nicht, sondern regt vielmehr zum Denken an - und fordert am Ende auf, die Familie möge doch endlich zu einer "neuen Ehrlichkeit" finden und ihre letzten Leichen aus dem Keller holen. Bedingungslosen Wagner-Anhängern wird dieses Buch vielleicht ein Dorn im Auge sein, auch weil es nicht mit Ironie spart und durchaus witzig freche Formulierungen verwendet - was aber im Grunde um soviel mehr Lesevergnügen bereitet, als so viele in weihevollem Duktus sich zelebrierende Veröffentlichungen zum Thema Wagner.
Vor allem fasziniert aber der Blickwinkel vor dem Hintergrund der politischen Zeitumstände: der Untertitel "Geschichte einer deutschen Familie" ist vollkommen gerechtfertigt, weil vieles aus den Zeitumständen zwar nicht entschuldbar aber nachvollziehbarer erscheint, weil im Falle gerade dieser Familie Zeit- und Familengeschichte in bemerkenswerter Weise ineinandergreifen.
Hör-Tipp
Apropos Musik. Das Magazin, jeden ersten Sonntag im Monat, 15:06 Uhr
Buch-Tipp
Jonathan Carr, "Der Wagner-Clan, Geschichte einer deutschen Familie", aus dem Englischen von Hermann Kusterer, Hoffmann und Campe