Berlin hautnah
Der kleine Bruder
"Der kleine Bruder" ist Sven Regeners drittes Buch aus seiner Lehmann-Reihe. Regener entwirft ein lebensnahes Bild eines Teils der Berliner Gesellschaft und erschafft Charaktere, die so oder so ähnlich tatsächlich existieren.
8. April 2017, 21:58
Sven Regener macht es seinem Helden Frank Lehmann nicht leicht: In "Der kleine Bruder", dem dritten Buch der Lehmann-Reihe - das in der Chronologie eigentlich der zweite Teil ist - kommt Frank aus Bremen nach Berlin und will seinen Bruder Manni treffen, der dort als Künstler lebt. Aber Manni ist verschwunden und stattdessen muss sich Frank mit den Gestalten aus Mannis WG herumschlagen, die Manni beharrlich Freddie nennen und ansonsten ihre Zeit damit verbringen, über alles und nichts zu palavern, unrealistische Zukunftspläne zu schmieden und sich nur gelegentlich zu überlegen, wo ihr Lebensweg eigentlich hingehen soll.
Sie seien ja alle in einem ganz entscheidenden Alter, um die 20, "wo ihnen alles angeblich offen steht", so Regener über seine Romanfiguren. "Wie sie versuchen, mit dieser Frage umzugehen und auch mit dieser Verwirrung, der sie unterworfen sind, das ist sehr spannend. Vor diesem Hintergrund können sich wirklich interessante Ereignisse begeben."
Krisenplenum zu Beginn
Franks Aufenthalt in Berlin beginnt mit einem Rausschmiss: Erwin, der Vermieter in der WG, will seine Mieter loswerden, weil seine schwangere Freundin einziehen soll. Grund genug für eine heftige Diskussion, in die Frank gleich nach seiner Ankunft gerät, ein so genanntes Krisenplenum, über das sich Frank so seine eigenen Gedanken macht.
Bisher war er immer davon ausgegangen, dass Freddie in der Stadt war, und nur so weit war auch sein Plan gegangen, Freddie (jetzt denke ich schon Freddie, dachte Frank, das ging ja schnell!) zu treffen und ihm alles zu erzählen und dann mal weiterzusehen. Stattdessen steht man, dachte er, hier mit den zwei Pfeifen herum, nennt seinen Bruder Freddie und keiner weiß, wo der ist, außerdem, dachte Frank, hat man keine Wohnung, kaum Geld, draußen ist's kalt und, dachte er dann auch noch kurz und soldatisch wirr, man hat noch nicht einmal ein Kochgeschirr und seine halbe Zeltplane dabei. Aber trotzdem war ihm seltsam leicht zumute, irgendwie beruhigte ihn der Quatsch, der hier geredet wurde, solange die beiden Unsinn reden, dachte er, ist alles halb so schlimm.
"Dialoge machen wahnsinnig viel Spaß"
Mit einigen von Freddies Mitbewohnern zieht Frank durch Berlin und trifft weitere, höchst skurrile Charaktere. Martin etwa, der sich Dr. Votz nennt und aus der Band, in der er den Bass spielt, hinausgeflogen ist, P. Immel, der eine Hausbesetzungssimulation vorbereitet indem er sein eigenes Haus besetzen lässt, oder Karl, einen der Wohnungsgenossen seines Bruders, dessen Kunst darin besteht, Holzkisten zuzunageln, in denen sich angeblich Metallskulpturen befinden, die man aber nicht sehen kann – und öffnen darf man die Kisten natürlich nicht, denn sonst würden sie kaputt gehen.
Irgendwie sehen sich alle als Künstler und verbringen ihre Zeit damit, zu reden, einander zu beschimpfen und sich dann gemeinsam zu betrinken. Weit mehr als bei den anderen beiden Lehmann-Büchern stehen diesmal die Dialoge im Mittelpunkt - Dialoge von bestrickender Unsinnigkeit, die gerade deshalb nicht nur witzig, sondern auch vertraut und sehr authentisch wirken.
"Mir zum Beispiel machen ja Dialoge wahnsinnig viel Spaß zu schreiben", gesteht Regener ein, "weil da auch so unglaublich viel Schrott geredet wird und das kann man auch wunderbar einsetzen, diese Wiederholung, das hat so was Musikalisches aber auch so was von asiatischem Kampfsport. "Was es an Möglichkeiten gibt, sich miteinander auseinander zu setzen, wie sie miteinander streiten, sich unterhalten, auch prügeln und sonst wie. Ich mag das gern, dieses pralle Leben."
Absurde und komische Situationen
Die Handlung des Buches umfasst nur zwei Tage, aber in diesen zwei Tagen lernt Frank die alternative Berliner Künstlerszene kennen und stellt die Weichen für seinen eigenen Werdegang, indem er in den Kneipen, die er besucht, auch mal als Kellner einspringt, wenn die Barkeeper gerade zu betrunken oder anderweitig beschäftigt sind.
Wie schon in den anderen beiden Lehmann-Romanen erzählt Sven Regener mit ungeheurem Witz, er bringt Frank in immer neue, absurde und komische Situationen, die sein Held in gewohnt lakonischer Art über sich ergehen lässt. "Deshalb war es mir auch eine große Freude, das Buch zu schreiben", so Regener, "weil es im Grunde genommen so Spaß macht, diesen Mann in Situationen zu stellen und dann einfach so, wie wenn man sich von außen anguckt, was er jetzt tun muss. Wie manche Leute das mit ihrem Goldhamster machen ja, mal sehen, was er jetzt macht."
Würdiger Serien-Abschluss
Regener entwirft ein lebensnahes Bild eines Teils der Berliner Gesellschaft; er erschafft Charaktere, die so oder ähnlich tatsächlich existieren und spickt das Ganze ab und zu mit hinreißend ironischen Kommentaren seiner Figuren. "Trink, solange du noch kannst", sagt Karl zu Frank Lehmann, "man weiß nie, ob später nicht was dazwischenkommt." Als Frank seinen Bruder schließlich findet, hat er einen ausgedehnten Streifzug durch eine skurrile Künstlerszene absolviert, in der er sich aber nach und nach wohlzufühlen beginnt.
"Der kleine Bruder" ist ein würdiger Abschluss der Lehmann-Reihe, ebenso scharfsichtig, ebenso witzig und ebenso liebenswert. Und das findet nicht zuletzt auch der Autor selbst: "Ich würde nicht sagen, die Welt hat auf dieses Buch gewartet, aber ich glaube, dass dieses Buch eines ist, das ich auch selber gern gelesen hätte. Ich sag's ganz ehrlich, ich finde das Buch wirklich gut. Ich kann's ruhigen Gewissens jedem sagen, ja, ich finde das Buch gut."
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Sven Regener, "Der kleine Bruder", Eichborn Verlag
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