Alle Alben neu aufgelegt

Robert Wyatt, Pop-Intellektueller

International bekannt geworden ist er in den 1960ern als Schlagzeuger von Soft Machine. Ein Fenstersturz beendete zwar sein Schlagzeugerdasein, nicht aber sein Musikschaffen. Jetzt kommen alle seine Alben wieder auf den Markt - auf Vinyl!

Für Jazz ist Robert Wyatt früher extra nach London gefahren.

Hinter einem Gittertor, in einem unscheinbaren Innenhof in West-London, im zweiten Stock eines alten Magazins mit einer braunen Backsteinfassade, liegt ein versteckter Schauplatz lebendiger Art-Rock-Geschichte: das Studio von Phil Manzanera, Gitarrist von Roxy Music.

An einem ausladenden Esstisch vor einem Teller arabischer Mehlspeisen sitzt in einem Rollstuhl einer von Manzaneras ältesten und dicksten Freunden, ein 63-jähriger Mann mit weißem Rauschebart, der im Aufnahmeraum nebenan einen wesentlichen Teil seines Lebenswerks eingespielt hat.

Das Großartige an der Möglichkeit, bei Phil untergebracht zu sein, ist, dass es für alle gut erreichbar ist, sagt Robert Wyatt. Ob Brian Eno oder Yaron Stavi, sie können sich einfach auf ein Fahrrad oder in einen Bus setzen und in zehn Minuten sind sie da.

Der singende Schlagzeuger

Die Nostalgie, die Robert Wyatt befällt, wenn er den Zügen vor dem Fenster des Studios zusieht, geht auf seine Teenager-Jahre an der Wende zwischen den 1950ern und 1960ern im ländlichen Kent, unten im Südosten Englands zurück. Die Eisenbahn war für ihn und seine in der Provinz gefangenen Freunde die magische Verbindung zur Londoner Metropole: Anderthalb Stunden Fahrt bis nach Charing Cross, aus dem Bahnhof und über den Strand, dann nur noch ein paar hundert Schritte hinauf nach Soho, der verruchten Heimat der britischen Jazz-Szene.

"Wir fuhren immer rauf nach London, um Ornette-Coleman-Platten zu kaufen", erzählt Wyatt. "Manchmal sahen wir uns sogar ein Konzert an. Duke Ellington oder das Modern Jazz Quartet. Wir erwogen ernsthaft, von zu Hause wegzulaufen und in Soho zu bleiben. Für immer. Aber wir taten's dann natürlich doch nicht."

Die fabulösen Sixties waren noch nicht einmal eine Utopie für den jungen Robert Wyatt in seiner traditionellen Grammar School im ehrwürdigen Canterbury. Soft Machine war die Band, die schließlich aus den als Schülerband der Simon Langton Grammar School formierten Wilde Flowers hervorgehen sollte. Mit Robert Wyatt als singendem Schlagzeuger - ein Kapitel seiner Vergangenheit, mit dem er allerdings auch kaum erfreuliche Erinnerungen verbindet. Bei allem Respekt vor diesen Leuten, sagt Wyatt, Ich glaube nicht, dass ich mich Ende der Sechziger in einem derartigen Haufen Scheiße wiedergefunden hätte, wenn ich mit anderen Leuten woanders gewesen wäre.

Aus dem Fenster geflogen

Anfang der 1970er verließ Wyatt Soft Machine und machte sich an verschiedenen Projekten avantgardistischer Natur zu schaffen, ehe er 1973 bei einer Party in London aus einem Fenster im dritten Stock fiel. "Ich war einfach so unglaublich betrunken, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat", erinnert sich Wyatt. "Ich bildete mir ein, dass ich aus dem Fenster flog, und wie sich herausstellte, war das auch der Fall. (...) Ich bin einfach chronisch bedenkenlos. Mir fehlt das besorgte Gen. Ich lese zwar, was gewisse Romanschriftsteller über die Midlife Crisis und das Herannahen des Todes schreiben, aber mir ist das wirklich völlig egal, es betrifft mich überhaupt nicht."

In den dreieinhalb Jahrzehnten seit seinem Fenstersturz, nachdem er von der Hüfte abwärts gelähmt und damit auch kein Schlagzeuger mehr war, hat Robert Wyatt in beharrlicher Stubenarbeit einen beachtlichen Katalog an Solo-Alben angesammelt, die dieser Tage vom britischen Independent-Label Domino Records in zwei Tranchen wiederveröffentlicht werden, und das keineswegs nur aus Liebhaberei. Schließlich brachte das sonst eher auf hippe junge Bands wie Franz Ferdinand oder Arctic Monkeys spezialisierte Label 2007 schon mit großem Erfolg Wyatts letztes Album "Comicopera" heraus.

Symbolfigur der Integrität

Aus der Sicht einer von der verlorenen Relevanz des Mainstream-Pop und der ideellen Aushöhlung der Independent-Szene desillusionierten Generation ist Robert Wyatt in seiner ungebrochenen Verschrobenheit eine Symbolfigur der Integrität. Die Neuveröffentlichungen Robert Wyatts alter Platten werden demnach aller Voraussicht nach ein weit größeres Publikum erreichen als bei ihrem ursprünglichen Erscheinen, und ja, die Rede ist tatsächlich von Platten. Von "Rock Bottom" aus dem Jahre 1974 aufwärts werden die Robert-Wyatt-Alben nicht als CD, sondern auch auf dem wieder in Mode kommenden Vinyl gepresst, im Falle mancher späterer Werke, die in den 1990ern nur auf CD herauskamen, sogar zum ersten Mal.

Die Alkoholsucht überwunden

Mit Alfreda Benge, kurz Alfie, Gestalterin sämtlicher seiner Cover-Artworks, ist Wyatt seit 35 Jahren verheiratet. "Es war nicht leicht für Alfie", meint Wyatt. "Zum Beispiel mein bescheuertes Benehmen, als ich mich Jahrzehnt um Jahrzehnt andauernd betrank", bekennt Wyatt. "Dies ist das erste Jahr, wo ich es geschafft habe, etwas dagegen zu tun. Ich vermisse schon die Intensität der dramatischen Abwärtskurve des Betrunkenwerdens. Was dagegen wirklich schön ist, ist mich daran erinnern zu können, was ich gestern gesagt habe. Das hat mir eine völlig neue Welt eröffnet. Dinge sind machbar. Man muss nicht betrunken sein, um Ideen zu haben, und das ist eine Erleichterung."

"Jeden Abend hatte er diesen Silberblick. Nacht um Nacht um Nacht", erinnert sich Benge. "Das Trinken macht die Menschen schrecklich egozentrisch, und nach 35 Jahren fühlte ich mich wirklich einsam. Jetzt habe ich ihn wieder zurück. Vielleicht hätte er weiterhin wundervolle Musik machen können, aber er hätte ganz sicher nicht weiterhin eine Frau gehabt, denn es war sinnlos mit ihm."

Linke Themen als roter Faden

Den Alkohol und die Zigaretten mag Robert Wyatt aufgegeben haben, seine ideologischen Leidenschaften dagegen nicht, von den antiimperialistischen Spottliedern auf "Old Rottenhat" oder "Cuckooland" über die Arbeiterhymnen auf "Nothing Can Stop Us" bis zum kapitalismuskritischen "Shrinkrap" auf "Dondestan" zieht sich das linke Thema als buchstäblich roter Faden durch das Gesamtwerk Wyatts, und einiges daran klingt aus heutiger Sicht noch pointierter.

Hämische Worte zur derzeitigen globalen Finanzkrise erspart Wyatt sich aber: "Es überrascht mich zumindest nicht. Ich sehe einfach nicht ein, wie die Welt von Leuten am Laufen gehalten werden kann, deren einziges Motiv Profit ist, indem von ihrem Reichtum was nach unten durchsickert. Ich finde es sogar unfair, von den Kapitalisten zu verlangen, Philanthropen zu sein. Ihre Aufgabe ist, Geld für Aktionäre zu machen, mehr nicht. Der Punkt ist aber, dass sie auch nicht Länder oder internationale Beziehungen organisieren sollten. Es wundert mich jedenfalls nicht, dass ein System, das auf purem Kapitalismus beruht, unsicher ist."

Die Alben "Live At Drury Lane", "Rock Bottom", "Ruth Is Stranger Than Richard" und "Nothing Can Stop Us" wurden letzte Woche bei Domino Records wiederveröffentlicht, am 17. November 2008 folgen "Old Rottenhat", "Dondestan", "Shleep", eine Sammlung von EPs und "Cuckooland", und im Dezember vor Weihnachten das unvermeidliche Box-Set. Weil auch Robert Wyatt und Alfie Benge ihre Pennys brauchen.

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Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 8. November 2008, 17:05 Uhr

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