Denis Johnsons Anti-Kriegsbuch

Ein gerader Rauch

Das kollektive Trauma der US-Amerikaner ist nach wie vor der Vietnamkrieg. Denis Johnsons Roman handelt von der Realität dieses Krieges, indem er dessen verrückte Irrealität darstellt, von der Hölle auf Erden und der Hoffnung auf Erlösung.

Amerikanische Hubschrauber im Dämmerlicht bei einem Einsatz im nordvietnamesischen Feindesland, Hubschrauber, die im flirrenden Staub einer Militärbasis landen, Vietcong-Kämpfer in den Reisfeldern, Bars und Bordelle in Saigon, voller GIs, betrunken und mit Drogen vollgepumpt.

Der Vietnam-Krieg war ein Krieg der Bilder. Bilder von den Grausamkeiten, die amerikanische Soldaten angerichtet haben, von den Toten und Verletzten auf beiden Seiten haben diesen Krieg mit entschieden. Im Mai 1975 war es vorbei: Die letzten Amerikaner verließen das südvietnamesische Saigon, die Niederlage wurde zu einem kollektiven Trauma und zu einem gewaltigen Stoff für weitere Bilder, für Filme, Romane, Mythen und Legenden. Am Schluss seines grandiosen Vietnam-Epos, am Schluss von "Ein gerader Rauch", lässt Denis Johnson eine der Figuren sagen: "Ich würde sagen, die Wahrheit liegt in der Legende."

Der Mythos Vietnam ist Teil der Wahrheit dieses Krieges; deshalb tut Denis Johnson keinen Augenblick so, als ob er die Realität des Krieges unabhängig davon beschreiben könnte. Das Buch bezieht einen großen Teil seiner Suggestionskraft aus seinen Zitaten, in Bildern und Worten. Vor den Augen der Leserinnen und Leser tut sich ein Breitwand-Panorama Südostasiens auf. Dabei bewahrheitet sich eine Regel der Kunst: Es tut der Wirkung eines Buches oder eines Filmes nicht im Geringsten Abbruch, wenn diese Wirkung sich aus schon Vorhandenem speist. Wir sind trotzdem gerührt, wir werden trotzdem gepackt, wir sehen uns in einen exakt kalkulierten Strudel hineingezogen, ein Abbild der Hölle, die wir dem Himmel sei Dank nie selbst geschaut haben.

Apokalyptische Prophezeiungen

Der Roman beginnt 1963, dem Jahr der Ermordung John F. Kennedys, er endet 1982. Sein im Deutschen sperrig klingender Titel stammt aus der Bibelübersetzung Luthers. "Ein gerader Rauch" spielt auf das "Hohelied" an und auf die apokalyptischen Prophezeiungen des Propheten Joel, in denen von verzehrendem Feuer und lodernden Flammen am "Tag des Herrn" die Rede ist. Damit sind Liebe und Zerstörung als die großen Widersacher aufgerufen. Es ist großartig, wie Johnson die Fülle an Zitaten nie zu bloßem Bildungspomp verkommen lässt; vielmehr offenbaren die Zitate die Kraft, die in ihnen steckt. Sie geben dem Roman seine Richtung vor.

Aber welche Richtung eigentlich? "Ein gerader Rauch" dreht sich um das Schicksal einer Handvoll von Figuren, die im Gegensatz zu ihrem Autor völlig die Orientierung verloren haben. Im Zentrum steht ein amerikanischer Colonel, ein Berg von einem Mann und aufgebaut aus einer Vielzahl an Zitaten: In ihm stecken der Colonel Kurtz aus Joseph Conrads Novelle "Herz der Finsternis", das Vorbild für Marlon Brandos monströse Figur in Francis Ford Coppolas mythengetränktem Vietnam-Film "Apocalypse Now"; in ihm stecken Figuren Thomas Pynchons, der große Postmodernist unter den amerikanischen Romanciers, dessen Darstellungen einer kollektiven Verschwörungsparanoia Johnson viel verdankt; und in Colonel Sands steckt der biblische König Salomon: Wenn es im "Hohelied" über dessen Sänfte heißt, die wie ein Liebeslager beschrieben wird: "Wer ist die, die heraufgehet aus der Wüste wie ein gerader Rauch", dann kann man an den vor Vitalität strotzenden Machtmenschen Sands denken, der sich mit seinem Hubschrauber erhebt, um zu seiner vietnamesischen Geliebten zu fliegen. Dieser Colonel heckt als Angehöriger des CIA, Abteilung psychologische Kriegsführung, aberwitzige Pläne aus, von denen nicht klar ist, ob er sie selber versteht.

Abstruse Aufträge

Die zweite zentrale Figur ist Skip Sands, ein Intellektueller und der Neffe des übermächtigen Colonel. Wie so viele vor ihm wollte er die Realität des Krieges erfahren, er wollte, wie es im Roman heißt, in "die Schmiede" des Krieges gehen. Das Modell für Krieg als läuternde Selbsterfahrung ist Ernst Jüngers Erster-Weltkriegs-Roman "In Stahlgewittern".

Was Skip Sands erlebt, ist das Gegenteil von Stahlgewittern: Sein Onkel schickt ihn an abseitige Orte auf den Philippinen und in ein Landhaus in Südvietnam, wo er die abstrusesten Aufträge ausführt: Er sammelt zum Beispiel vietnamesische Märchen, um die Einwohner besser verstehen zu können, was der psychologischen Kriegsführung zugute kommen soll. Oder er bearbeitet in mühevoller Kleinarbeit eine nachrichtendienstliche Kartei seines Onkels, die völlig veraltet und zu nichts mehr nutze ist, als ein weiteres Abbild der irr laufenden amerikanischen Kriegspläne zu sein. Hier ist die Parallele zum Irakkrieg und den falschen Geheimdienstinformationen, mithilfe derer dieser Krieg begründet wurde, offensichtlich.

Ein wirrer theoretischer Aufsatz des Colonel warnt vor der Verzerrung geheimdienstlicher Erkenntnisse durch die Erwartungen der vorgesetzten Stellen. Die Informationen gehen entlang der Befehlskette zuschanden.

Trügerische Hoffnung

Des Colonels größter Coup sollte die Anheuerung eines vietnamesischen Doppelagenten sein, der durch gezielte Fehlinformationen die nordvietnamesische Regierung in Verwirrung stürzen sollte. Gedacht war an das Gerücht, die Amerikaner wollten über Hanoi eine Atombombe zünden. Die Operation trägt den Decknamen "Gerader Rauch". Die Mission endet im Desaster, sie führt zu einer Atmosphäre allgemeinen Verdachts in den Reihen des CIA. Niemand weiß mehr, wo und wofür er eigentlich steht, und was er in diesem Land eigentlich tut. Der Kommunistenhass ist da ein nur mehr teilweise wirksames Surrogat.

Auch die jungen amerikanischen Soldaten wissen nicht, was sie tun. Denis Johnson schildert die Geschichte der beiden Soldaten Bill und James Houston, die aus ärmlichen Verhältnissen stammen und in der Wüstenstadt Phönix aufgewachsen sind. Direkt vom College weg meldeten sie sich in den Krieg: Auch sie in der trügerischen Hoffnung, ihrem Leben dadurch Richtung und Halt zu geben.

Trostlose Verzweiflung

Der Roman besteht zu einem großen Teil aus Dialogen, Denis Johnsons große Stärke. Wie überhaupt das ganze Buch, sind die Dialogpassagen vorzüglich übersetzt. Die Brüder Bill und James haben sich über eine Telefondistanz von mehreren Tausend Kilometern nicht viel zusagen, das klingt dann so:

"Bist du fertig mit der Navy?"
"Fertig mit denen, und die sind fertig mit mir."
"Wohnst du bei Mom?"
"Nur besuchsweise. Wo bist du?"
"Im Moment? Da Nang."
"Wo ist das?"
"Irgendwo tief unten im Scheißmeer."


Johnson verzichtet auf die breite Ausmalung von Gewaltszenen. Dadurch wirken eine Folterszene und die Racheorgie junger GIs an einem vietnamesischen Mädchen umso stärker. Der Roman beginnt mit einem Bild trostloser Verzweiflung, das allem Folgenden seine Prägung gibt: Der 18-jährige Bill Houston tötet im Dschungel einen Affen, aus Langeweile, aus Mordlust, aus irgendeinem diffusen Antrieb heraus. Das weinende, menschenähnliche Tier in den Armen, weint auch der junge Soldat.

Die Hölle auf Erden

Die einzige Figur, die stark ist in ihren Zweifeln, die das Richtige tut, ist die Krankenschwester Kathy. Sie betreut vietnamesische Waisenkinder und hätte Skip Sands Rettung bedeuten können, wenn er nicht liebesunfähig gewesen wäre. Die Briefe, die sich Skip und Kathy schreiben, gehören zu den intimsten und berührendsten Passagen des Romans. Kathy schreibt:

Wovon meiner Meinung nach noch nicht die Rede war, ist die Tatsache, dass die Hölle nur die Hölle sein kann, wenn die Menschen dort nicht genau wissen, ob sie wirklich in der Hölle sind.

Von der Hölle auf Erden und der Hoffnung auf Erlösung handelt dieses große Antikriegsbuch. Es handelt von der Realität des Vietnam-Krieges, indem es dessen verrückte Irrealität darstellt.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 7. November 2008, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 8. November 2008, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Denis Johnson, "Ein gerader Rauch", aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell und Robin Detje, Rowohlt Verlag