Der nördliche Zipfel Manhattans
Nachrichten aus dem 4. Reich
Vor 20 Jahre reiste Gerhard Jelinek für eine Serie in der Zeitschrift "Wochenpresse" nach New York, um österreichische Emigranten zu interviewen. Aus den Interviews wurde dann eine Magazin-Serie und jetzt ein - aktualisiertes - interessantes Buch.
8. April 2017, 21:58
Dieser Tage hört man in Washington Heights, am nördlichen Zipfel Manhattans, überwiegend Spanisch. Das Viertel ist fest in der Hand von dominikanischen Einwanderern und wird informell Quisqueya Heights genannt. Doch in den 1940er Jahren war die Gegend um den Broadway und die 160. Straße wegen der vielen Emigranten aus Österreich und Deutschland als das "vierte Reich" bekannt.
Hier wohnte anfangs auch die heute 94 Jahre alte Schriftstellerin Stella Hershan. Sie war 1939 über Paris nach New York gekommen. Stella Hershan ist eine von 22 Emigranten, die Gerhard Jelinek in seinem Buch "Nachrichten aus dem 4. Reich" zu Wort kommen lässt.
Interview-Serie in New York
Die Gedenkjahre 2008 und 2009 sind der Grund, warum das Buch gerade jetzt erschienen ist, doch die Entstehungsgeschichte reicht 20 Jahre zurück. Damals reiste der Autor für eine Serie in der schon längst eingestellten Zeitschrift "Wochenpresse" nach New York, um österreichische Emigranten zu interviewen. Das sei "das Wichtigste (gewesen), was ich journalistisch je gemacht habe", sagt er heute. "Wir hatten damals den Eindruck, dass die Menschen glücklich waren, ihr Schicksal jungen Österreichern erzählen zu dürfen." Aus den Interviews wurde dann eine viel zu kurze Magazin-Serie.
Zu Wort kommen etwa der ehemalige sozialistische Abgeordnete Maximilian Brandeisz, der Journalist Robert Breuer, der Komponist Fritz Spielmann und die gelernte Modistin und spätere Autorin und Herausgeberin von Exilliteratur, Mimi Grossberg. Alle erinnern sich an den "Anschluss", an die Angst und an die große Erleichterung, rechtzeitig weggekommen zu sein.
Let's have lunch!
Fast alle mussten sich anfangs durchkämpfen. Clementine Zernik etwa war in Wien Strafverteidigerin gewesen. Sie kam 1938 nach New York. Ihr wurde bald klar, dass Qualifikationen aus Europa in der Neuen Welt nichts wert waren. Clementine Zernik erzählte damals dem Autor:
Ich erinnere mich, ich habe mir das Telefonbuch genommen und alles nachgeschaut, was angefangen hat mit "Austrian" oder mit "Jewish" und bin zu den Leuten hingerast und habe versucht, eine Stelle zu finden. Ich bin von früh bis nachts mit Empfehlungen, mit Briefen gelaufen. Und damals haben wird das kennengelernt, dass die Leute gesagt haben: "Let's have lunch, some day!" Das hat gar nichts bedeutet.
Gewohnheiten von zu Hause
Von den 22 österreichischen Emigranten sind nur noch drei am Leben: Das sind, außer Stella Hershan, Marta Eggerth, die gemeinsam mit ihrem Mann Jan Kiepura nach New York kam. Beide traten am Broadway auf und konnten ihre Karrieren nahtlos fortsetzen.
Franz Leichter war bei seiner Ankunft in New York erst neun Jahre alt. Er erinnert sich noch gut an das "4. Reich" im Norden Manhattans: "Es war interessant, wie viele Gewohnheiten und Einrichtungen die Leute aus Wien oder aus Deutschland, woher sie eben stammten, mitgebracht haben. Es hat also sehr viele Konditoreien und Kaffeehäuser gegeben. Am Sonntag waren die Parks voll, weil die Österreicher und Deutschen ihren Spaziergang machten. Und man hat viele Leute deutsch sprechen hören."
Franz Leichter zog es in die Politik. Von 1974 bis 1998 war er demokratischer Senator im Regionalparlament des Staates New York. Sein Bezirk: Washington Heights. Zwar ist er mittlerweile pensioniert, doch er kommt häufig in das alte Viertel. "New York wandelt sich ja ständig. Die Dominikaner haben vermutlich ihren Höhepunkt schon überschritten", meint Leichter. "Die Gegend wird ethnisch gemischter. Da die Wohnungen dort billiger sind als in anderen Gegenden von Manhattan sind in letzter Zeit viele junge Paare und auch Musiker hinaufgezogen. Aber für uns, die wir Washington Heights von früher her kennen, wird es immer das '4. Reich' sein."
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Gerhard Jelinek, "Nachrichten aus dem 4. Reich", Ecowin Verlag
Link
Ecowin - Nachrichten aus dem 4. Reich