Fiktiv, aber einflussreich

101 Personen, die es nie gab

Was haben Barbie, James Bond und Hamlet gemeinsam? Alle drei hat es nie gegeben, dennoch haben diese und viele andere fiktive Figuren unser Leben oft viel stärker beeinflusst als tatsächlich lebende Personen. Wie haben sie das geschafft?

Die Erschaffung einer Fiktion gehört zu den Errungenschaften menschlicher Kultur der letzten dreitausend Jahre und wahrscheinlich noch länger. Der Einfluss und die Bedeutung dieser uralten Geschichten sind erst in jüngster Zeit wirklich gewürdigt worden. Wir Menschen sind tatsächlich eine selbst gemachte Spezies.

Unser Leben entfaltet sich oft in einer Welt, die von anderen Menschen bereits definiert wurde. Oft sind diese Menschen aber gar nicht real, sondern nur Ideenträger anderer Menschen.

Fiktionales als Reales

Figuren aus Literatur, Film und Fernsehen beeinflussen unser Leben mittlerweile so sehr, dass viele von uns sie wie tatsächlich lebende Personen betrachten. Wir leiden und trauern mit ihnen. Wir freuen uns mit und lernen von ihnen. Wir nehmen die Taten unserer Helden als Vorbild und versuchen die Fehler tragischer Gestalten zu vermeiden. Viel Fiktionales ist nicht nur reine Unterhaltung, sondern tatsächlich Lebenshilfe, denn eine ganze Menge Facetten des Lebens können wir nur über sie erfahren, weil wir uns etwa selbst nicht in Gefahr begeben können oder wollen. Doch welchen Einfluss haben unsere fiktiven Helden wirklich? Und welchen haben sie gehabt?

Wäre Alexander der Große zur Welteroberung ausgezogen, wenn er nicht die Geschichten vom Trojanischen Krieg gehört hätte? Und wäre Napoleon ohne das Beispiel Alexanders auf die Idee gekommen, in Russland einzumarschieren?

Erfolgreichste Werbekampagne mit dem Marlboro-Mann

Sortiert wurde die subjektive Zusammenstellung der beeindruckendsten Kopfgeburten nach ihrem Grad an Einfluss auf die westliche Kultur. Der überraschende Sieger: Der Marlboro-Mann. George Orwells Albtraum-Diktator "Big Brother" muss sich knapp geschlagen geben. Den dritten Rang belegt der ewige Edelmann König Artus. Die erste Frau folgt auf Rang 9 und hört auf den Namen Julia, zumeist ausgesprochen von ihrer großen Liebe Romeo.

Aber Namen und Platzierung sind reine Spielerei. Das Autoren-Trio gibt auch zu, trotz aller Bemühungen keine Moral oder allgemein gültige Erkenntnis aus ihrer Beschäftigung mit den fiktiven Persönlichkeiten gefunden zu haben.

Der eigentliche Genuss liegt im Detail und an den zahlreichen und immer wieder überraschenden Informationen, die man für die 101 Porträts zusammengetragen hat. Die Wahl für den Marlboro-Mann wird beispielsweise durch handfestes Zahlenmaterial untermauert. "Marlboro" aus dem Philip-Morris-Konzern war Mitte der 1950er-Jahre eine mehr schlecht als recht gehende Damenzigarette. Der radikale Imagewechsel mit dem Einsatz des rauchenden Cowboys geriet zur erfolgreichsten Werbekampagne des 20. Jahrhunderts. Die Einnahmen konnten binnen zwei Jahren von 5 Milliarden auf 20 Milliarden Dollar jährlich hinaufgeschraubt werden. Im Jahr 2000 hatte Marlboro immer noch einen Marktanteil von unglaublichen 35 Prozent.

Süße Barbie

Eine weitere Kult-Figur aus den 1950er Jahren sorgte immer wieder für heftige Diskussionen, weil ihr süßes Lächeln Generationen von Mädchen nicht nur glücklich machte, sondern oft auch verzweifeln ließ. Barbie, der 1959 erstmals präsentierte ultradünne, immer fröhliche Teenager in Puppenform, wurde bis heute über eine Milliarde Mal produziert. Perfekt proportioniert war sie gänzlich ungeeignet für die Mutterrolle. Ihre Träume drehten sich ausschließlich um Ken, Kleider und Karriere. Nicht wenige geben ihren unerreichbaren Maßen die Schuld an den wachsenden Zahlen von Bulimiekranken und Essgestörten. Ihr Lächeln wird da schnell zur eingefrorenen Fratze, zum höhnischen Symbol unerfüllbarer kapitalistischer Sehnsüchte.

Es gibt aber auch Helden mit gänzlich positivem Einfluss. Der Optimismus von "Raumschiff Enterprise" und seinen grundsympathischen Protagonisten Captain Kirk, Mister Spock & Co war 1967 genau die richtige Medizin in einer Zeit krankhafter Ängste.

Roddenberrys Welt war auf einer einzigen Erkenntnis aufgebaut: Können wir das Zeitalter der atomaren Bedrohung überleben? Ja, aber nur, wenn wir lernen, die wesentlichen Unterschiede zwischen den Kulturen und Völkern als etwas Positives anzusehen. Toleranz allein reicht dazu nicht aus. Wenn wir uns da draußen im All wie Wilde verhalten, werden wir auch wie Wilde behandelt werden.

Die Befreiung der Frau

Robin Hood, Batman, der Weihnachtsmann, Sherlock Holmes, James Bond, Luke Skywalker und Siegfried - die üblichen Verdächtigen finden sich in der Liste der 101 einflussreichsten Personen, die es nie gab, ebenso wie echte Überraschungen: Zum Beispiel Hans Beckert. Im Kapitel "Verbrechen" wird auf seinen Einfluss auf die Filmindustrie und damit auf die Öffentlichkeit dankenswerter Weise nicht vergessen. In Fritz Langs Film "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" ist er der erste Serienkiller der Kinogeschichte und damit Vorbild für unzählige Variationen des Themas. Sein bewegendes Geständnis und sein Flehen um Gnade hatten große Auswirkungen auf das Verständnis von zwanghaftem Handeln von Verbrechern.

Da außer "Alice im Wunderland", Helena und Lilith nur wenige weibliche Figuren Einlass in die ruhmreiche Liste gefunden haben, kreierten die Autoren das Kapitel "Die Befreiung der Frau". Hester Prynne aus "Der scharlachrote Buchstabe" wird hier ebenso gewürdigt wie Lady Chatterely, Ibsens Nora Helmer oder aber auch moderne Heldinnen wie das TV-Serien-Phänomen "Buffy, die Vampirjägerin".

Sie verkörpert den typischen modernen Teenager und besitzt zugleich Züge aus der griechischen Mythologie. Die Serie endete mit einem Knalleffekt: In der letzten Folge sah man viele Mädchen, viele Heldinnen trainieren, die nicht länger Opfer sein wollten, sondern Siegerinnen.

Intelligente Analyse

Micky Maus als Präsident der USA, Santa Claus als reichster Mann der Welt oder angebliche Blutsverwandtschaften mit König Artus - zahlreiche Beispiele zeigen, wie schwer es für viele Menschen offenbar ist, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden. Auch Figuren wie Dracula, Citizen Kane und Wilhelm Tell werden gar nicht selten für real gehalten, was wohl der stärkste Beweis dafür ist, wie massiv ihr Einfluss auf unser Denken und Handeln ist. Das insgesamt 17 Kapitel umfassende Kompendium ist intelligente Analyse und humorvolle Auseinandersetzung zugleich. Kurzum: ein vergnügliches Nachschlagewerk.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Dan Karlan, Allan Lazar, Jeremy Salter, "Die 101 einflussreichsten Personen, die es nie gab. Wie Barbie, James Bond und Hamlet uns verändert haben", aus dem Englischen übersetzt von Barbara Först, Ehrenwirth Verlag

Link
Ehrenwirth Verlag - Die 101 einflussreichsten Personen, die es nie gab