Ein Gruppenporträt in Öl

Stimmgewitter

Bei der Wiener Obdachlosenzeitung "Augustin" fanden sie Arbeit: Heidi, Hans, Martin, Hömal, Klaus, Oskar und Ernst. Seit dem Jahr 2000 treten sie - unterstützt von Riki und Mario - in ganz Österreich auf und haben zwei CDs veröffentlicht.

Im Jahr 2000 fanden sich Riki Parzer und Mario Lang beim "Volksstimme"-Fest in Wien zusammen und ließen es sich schmecken. "Eine Schnapsidee" nennt Mario Lang das, was an jenem Tag geboren wurde: ein Gesangsverein für "Augustin"-Verkäuferinnen und -Verkäufer. Riki und Mario arbeiteten für die Wiener Obdachlosenzeitung, und bald versammelten sich um sie zahlreiche Kolleginnen und Kollegen vom Außendienst.

Einer, der als "Augustin"-Verkäufer heute noch überall in Wien gesichtet wird, ist Hans Kratky. Ein ältlicher Herr mit Strubbelbart und Blick ins Irgendwo, dessen feine ironische Ader sich erst bei genauem Hinhören zeigt. Er ging mit seinem Altwarengeschäft bankrott und verkauft seither Zeitungen. Neben ihm sitzt beim Interview Heidi Groß, eine begnadete Alleinunterhalterin und Hobbyschauspielerin.

Exekutor, Kirche, Riesenrad

Bei der "Stimmgewitter"-Probe traf man außerdem Hömal, der im Priesterseminar in Mitleidenschaft gezogen wurde, dem Glauben aber nicht den Rücken gekehrt hat. Seinen ganzen Namen will er nicht preisgeben. Daneben Klaus Hammer, Anfang 40, einem "Betrüger" auf den Leim gegangen - seither ist der Exekutor "Dauergast". Gegen die Depressionen hilft nicht nur ihm das Singen.

Auch Martin Österreicher kennt die Not. Als "Reparateur" in einer Elektronik-Firma gekündigt, sattelte er um auf die "Gastronomie" - neun Jahre Würstelstand. Heute ist er arbeitslos, weil sein "Technikwissen ein Museumswissen" ist. Ebenfalls langzeitarbeitslos: Ernst Watzinger, einst beim Zirkus und beim Riesenrad beschäftigt, heute der Mann der hohen Töne im "Stimmgewitter". Andere Stimmlage, andere Herkunft: Oskar Walch aus Vorarlberg, gelernter Bodenleger, der sich für einen vermeintlich guten Freund verbürgt hatte.

Von der Straße in den Chor

Anfänglich waren es bis zu 30 Stimmen - trainiert mittels Bier und Zigaretten -, die sich bald auf jene neun reduzierten, die sie heute sind. Mario Lang, gelernter Optiker und Fotograf unter anderem für den "Augustin", hält die Truppe von neun "Extremindividualisten" im Musikalischen zusammen. Er organisiert Auftritte, CD-Aufnahmen, arrangiert die Lieder. Riki Parzer, die "Gruppenmami", sorgt für leibliches und seelisches Wohl, schlichtet Streit, bucht die Zimmer, kümmert sich um die Jause.

Kitsch und Revo

Im Jahr 2000 war Ernst Watzinger noch auf der Straße, genauer, auf der Donauinsel, von wo er zu den Proben kam. Zwei der damals ebenfalls obdachlosen Stimmgewitterer sind mittlerweile verstorben. Gezeichnet sind die anderen: Finanzielle Armut, Alkohol, teils Drogen, schwere und häufige Schicksalsschläge hängen an den Gesichtern. Doch wenn vom "Stimmgewitter" die Rede ist, wird es hell in ihren Augen. "Kitsch und Revo", Schlager und Arbeiterlieder singen sie, Bert Brecht bis Rio Reiser - Liedgut, auf das sich alle (irgendwie) einigen können.

Zwei CDs haben die Neun mittlerweile aufgenommen, die dritte ist in Arbeit. Sie touren durch ganz Österreich. Man empfängt sie nun schon immer seltener als "Obdachlosenchor" - das "Stimmgewitter" ist zu einer Marke geworden, die für einen authentischen, sympathischen Haufen beherzter Dilettanten steht.

Hör-Tipp
Tonspuren, Freitag, 4. Dezember 2009, 22:15 Uhr

Links
Stimmgewitter
Augustin