Ivan Ivanji verwebt real Geschehenes mit Fiktion
Geister aus einer kleinen Stadt
Seit vielen Jahren lebt Ivan Ivanji in Wien und in Belgrad und er schreibt unermüdlich Bücher - große historische Romane und Bücher, die literarisch die jugoslawische Nachkriegsgeschichte aufarbeiten. Sein neuestes ist gerade erschienen.
8. April 2017, 21:58
"Ich war im Januar '42 in Novi Sad", erzählt Ivan Ivanji. "Wenn ich an einer falschen Adresse gewohnt hätte, hätte ich mehr als 60 Jahre danach dieses Buch über Juden und Hunde in meiner kleinen Stadt nicht schreiben können." Eben jenes Buch über "Geister aus einer kleinen Stadt".
Ivan Ivanjis neuer Roman handelt vom Untergang der einst so sinnesfreudigen, geschäftigen Gesellschaft in eben jener kleinen Stadt nahe Novi Sad. Ivanji gliedert seine Chronik dieses Untergangs in drei große Kapitel: Frieden - Krieg - Frieden nach dem Krieg. Und nichts kann und will am Ende mehr so sein wie zu Anfang, vor dem Zweiten Weltkrieg. Wo auch nicht alles nur pure Gutmenschen-Idylle war in diesem althergebrachten, eingespielten Neben- und Miteinander von Serben, Juden, Ungarn, Deutschen, Zigeunern und anderen Minderheiten, wie der Autor aus seiner Kindheit erinnert. Wo es durchaus ein klares Hierarchiegefälle gab, sowohl der Klassen als auch der Ethnien. Was die Menschen grundlegend von ihren Hunden unterschied, denen jeglicher rassische Dünkel fremd ist. Wo man es indes als Mensch verstand, aufeinander bezogen und tolerant zu leben, trotz vorhandener Ressentiments. Im Frieden.
Nur 38 Juden überlebten
Die Juden, die schon selber irgendwie am Rande der Gesellschaft stehen, obwohl sie sich das auf keinen Fall selbst eingestehen würden, mögen die Zigeuner, die noch weitaus verachtetere Parias sind, gar nicht. Früher, vor dem Ersten Weltkrieg, waren die Ungarn das Herrenvolk. Jetzt sind es die Serben. Nur wenige Juden haben daraus den Schluss gezogen, es sei erstrebenswert, Herr im eigenen Lande zu werden, und sind Zionisten geworden. Etwas Ähnliches könnte einem Zigeuner nie einfallen.
Das lässt Ivan Ivanji seinen Ich-Erzähler an einer Stelle sinnieren, und man darf dabei durchaus auf das Alter-Ego des Autors schließen, der dies alles aus eigener Anschauung kennt und nur ein wenig verfremdet beschreibt:
"Hier steht einiges anders, als ich es erlebt habe", so Ivanji. "Die Modistin, die das Vorbild für meine Figur war, war überhaupt keine Jüdin. Ihr Sohn ist als Jazzpianist in Köln berühmt geworden, nicht in Amerika. Die Doggen Dollar und Lady lebten nicht in der kleinen Stadt, von der hier die Rede ist, sondern waren im Norden, in Subotica an der ungarischen Grenze Hunde meines Onkels, der in Bergen-Belsen überlebt hat. Der Buchhändler in der Hauptstraße hat zwar existiert, hatte aber keinen Hund und war kein österreichischer Offizier. Der Zigeunerkönig, den ich gekannt habe, war nicht bei den Partisanen, sehr wohl aber der Rom, den ich als Bata beschreibe. Soll ich fortsetzen und erklären, was der Unterschied zwischen einem Roman und einer Autobiografie ist? Tatsache ist, dass in meiner Heimatstadt 1.278 Juden interniert worden sind und 38 überlebt haben."
38 von über 1.000 Juden, die den Krieg in Großbetschkerek überlebt haben. In dem das sich schon zuvor auch in dieser kleinen Stadt vereinzelt abzeichnende Herrenmenschengebaren zu perversen Hochformen auflaufen konnte. Dem nicht nur Juden und Partisanen, sondern auch andere Nichtarier, wie etwa der stolze, unbeugsame Sohn des Zigeunerkönigs zum Opfer fielen, der dem SS-Offizier aufrecht die Stirn geboten hatte. Oder Vitez, der Dobermann des jüdischen Buchhändlers, der einem Gestapo-Mann bei einer Razzia an die Gurgel sprang und mit seinem Herrn niedergeschossen wurde. Oder der grausame Hungertod von Darling, dem halb gelähmten Dalmatiner der Modistin, der in der requirierten, versiegelten Wohnung nach dem Abtransport seiner Herrin zurückgelassen wird - mit dem scheinheiligen Versprechen, der Besitz ergreifende deutsche Herrenmensch werde sich um ihn kümmern. Es sind gerade solche narrativen Miniaturen, mit denen Ivan Ivanji das ganze Ausmaß der Perfidie dieses Niedergangs jener beschaulichen multikulturellen Kleinstadtgemeinschaft und den notorischen Sadismus ihrer Henker vor Augen führt. Auch mit diesen vielen kleinen sentimentalen Geschichten um Wohlleben, Weiterleben und Ableben der geliebten Haus- und Hofhunde in dieser chaotischen Zeit in den 1940er Jahren. Hunde verschiedener Rassen und Kreuzungen. Als Metaphern für verschiedene Charaktere und Attitüden, für die Unschuld und Ohnmacht des Opfers, aber wohl auch als Metapher für den besseren Menschen.
Der Augenzeuge
Ein Mord ist immer unbeschreibbar. Wie fühlt sich der Mensch, der seinen gewaltsamen Tod unmittelbar erwartet? Wie der Mörder? Was soll man sagen, wenn man über Hundert, über Tausend, über viele Tausende einzelner Morde etwas sagen soll? Über Millionen? (...) Hilflosigkeit der Opfer. Was für ein falsches Wort, das Opfer. Opfert man eigentlich nicht nur, wenn man Götter bei guter Laune halten, Götter bestechen will?
Als Augenzeuge dieser Mordmaschinerie gestattet sich der Schriftsteller Sprachlosigkeit. Was bleibt in der Gefühls- und Gedankenwelt eines dieses Trauma literarisch verarbeitenden Menschen im "Frieden nach dem Krieg"? "Rache" lautet das erste Kapitel des dritten Teils dieses Romans von Ivan Ivanji:
Um zu rächen, muss man sich erinnern können. Vergeben bedeutet auch, vergessen zu können.
"Ich glaube nicht, dass ich neutral bin", meint Ivanji. "Ich bin aber kein Racheengel. Ich glaube, gerade in solch einem Buch bestehe ich auf Figuren wie der Andorfer, der Lagerkommandant war, und der diese Gaswagen kommandiert hat, und der hier in Österreich, in Bad Goisern, gelebt hat bis vor anderthalb Jahren und mit der Familie Haider befreundet war. Aber das wollte ich nicht im Buch sagen, weil ich es nicht hundertprozentig bewiesen habe. Ich hab schon vor mehr als einem Jahrzehnt oder mehr gedacht, wir könnten uns in der Straßenbahn treffen und einander als ältere Herrschaften höflich anlächeln, und er ist der Mörder meiner Eltern. Also, soll ich mich mit ihm herumschlagen? Er ist mir wurscht. Diese Sachen ekeln mich mehr an, als dass ich Rachegefühle hätte."
Verdrängen und vergessen
"Missglückter Besuch in der alten Heimat" überschreibt Ivan Ivanji das letzte Kapitel. Sein Protagonist wird alleine gelassen mit seinem Wissen um das Leben vor dem Tod in dieser kleinen Stadt und mit seinem Erinnerungsschmerz. Die Lebenden haben das Geschehene vergessen - oder verdrängt. Täter- und Opferseite stehen sich darin in nichts nach. Ivanji hat wieder einmal aufrührend gegen dieses Vergessen und Verdrängen angeschrieben. In diesem Fall zuerst auf Deutsch. Die Erfahrungen des Protagonisten in seiner Heimatstadt sollten dessen Alter Ego bewegen, nicht lange mit einer serbischen Fassung zu warten und damit auch in Zrenjanin auf Lesereise zu gehen.
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Ivan Ivanji, "Geister aus einer kleinen Stadt", Picus Verlag
Picus Verlag - Geister aus einer kleinen Stadt