Weihnachtsnachmittag mit Christian Morgenstern
Die Taschen voller Sterne
Dass Christian Morgenstern ein Genie der Groteskdichtung war, und dazu noch ein wunderbarer Parodist, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist der Philosoph und Religionsdenker, der Nietzsche anhing und der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners.
8. April 2017, 21:58
Du Glückskind!
Wetten will ich fast
Dass Du die Taschen voller Sterne
Die Seele voller Jubel hast!
Also schrieb der junge René Rilke (wie er sich damals noch nannte) begeistert an den um vier Jahre älteren Christian Morgenstern, der ihm seinerseits sein schwungvolles Lyrik-Debüt, den Zyklus "In Phanta's Schloss" zugesandt hatte.
Das war noch weit - zehn Jahre weit - entfernt von den nachmals so berühmten "Galgenliedern", viel weiter noch von den genialischen "Gingganz"-, "Palma Kunkel"- und, vor allem, "Palmström"-Grotesken, von denen Morgenstern später so sehr wünschte, sie mögen die Missverständnisse des alsbald ausgebrochenen "Galgenlieder"-Kults zudecken.
Vergeistigtes Naturporträt
Mit Philosophie, Erkenntnistheorie, kritischem Christentum und Seelenwanderung hatte sich schon der 16-Jährige - einziges, einsames Kind des Künstlerpaares Carl und Charlotte Morgenstern - zu beschäftigen begonnen; und als, nicht lange nach dem frühen Tod der Mutter, der Sohn erfuhr, dass auch er dieselbe Todeskrankheit - die Lungentuberkulose - in sich trug, geriet ihm sein Weltbild immer mehr zum vergeistigten Naturporträt ("Ich habe von den Malern mehr gelernt als von allen Dichtern zusammen"), sein Selbstbild zum Spiegelkabinett ("Ich war doppelt geworden und in der wunderlichen Verfassung, mich, sozusagen, groß und klein schreiben zu können.").
Er wandte sich nicht ganz ab von seinen philosophischen Gestirnen Nietzsche ("Mir warst du Brot und Wein") und Kierkegaard, sondern nahm sie mit in seine neue Lebensphase des wahlverwandten Beobachtens: Aus dieser stammen seine spiegelscharf einsichtigen Texte, lyrisch und prosaisch, wie "Ich und Du", "Einkehr", "Melancholie" - und die blitzgescheiten Palmström- und Korf-Weismachereien, Gedichte, die eine einzigartige Synthese aus Witz, Humor und philosophischer Denkakrobatik darstellen. ("Wenn ich die Welt durchs Prisma meines Witzes/fallen lasse - wievielmal ihr Bild/gebrochen wird - oft weiß ich selbst es kaum").
Rudolf Steiner, Verkünder der Wahrheit
Der Humor erschien Christian Morgenstern als durchaus erkenntnisphilosophische Übung ("... die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkte des Unendlichen aus"), die Religion nichts weiter als der (allerdings "ewige") Wille zur Höherentwicklung. Durch alles Christentum hindurch fand er kurzfristig zu Buddha - und schließlich zur Anthroposophie Rudolf Steiners, den er als Verkünder der Wahrheit pries.
Ein Jahr nach dem Rudolf-Steiner-Erlebnis, 1910, heiratet Christian Morgenstern seine große Liebe Margareta während einer Kur in Meran.
Er stirbt während eines letzten Sanatoriumsaufenthaltes in Südtirol, 1914, 43 Jahre alt. Seine Urne wird, wunschgemäß, im Rudolf-Steiner-Goetheanum in Dornach in weißem Alabaster beigesetzt.
Kabinettphilosophische Fantastik
Christian Morgenstern hat Gedichte von schier vollkommener Poesie hinterlassen, dazu grandiose Grotesklyrik, ein ganzes Genre, das man am ehesten "kabinettphilosophische Fantastik" nennen könnte, erstklassige literarische Parodien, Notizen, Aphorismen, Tagebücher, lyrische Übersetzungen aus dem Französischen, dramatische Übersetzungen aus dem Norwegischen des Henrik Ibsen... und, seltsamerweise, auch den Irrtum, dass die Möwen, die alle aussehen, als ob sie Emma hießen, nicht von ihm wären. Sie sind es, selbstverständlich.
Hör-Tipp
Ihr seid von hier, ich bin von dort, Mittwoch, 24. Dezember 2008, 14:05 Uhr
Link
Digitales Christian-Morgenstern-Archiv