Immerzu drauf und dran

Exhibitionismus im Netz

Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben mit Computerhilfe, Digitalkameras und Weblogs mitschneiden und per Videostream live im Internet übertragen. 24 Stunden am Tag. Das sogenannte Lifecasting hat sich vor allem in den USA etabliert.

Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben mit Weblogs, Video- und Digitalkameras mitschneiden und per Videostream live im Internet übertragen. 24 Stunden am Tag. Lifecasting hat sich vor allem in den USA mit Internetplattformen wie ustream.tv, justin.tv oder kyte.tv etabliert.

Auf Internetplattformen wie justin.tv bekommt jeder Benutzer eine eigene Seite mit Profilangaben, Videostream- und Chat-Fenster. Selbstdarsteller finden Öffentlichkeit, werden zu Star und Regisseur im eigenen Fernsehsender. Bloß warum machen die das und wen interessiert's?

Harris schnarcht

Es ist wie ein schlechter Witz. Da schläft jemand und - schnarcht. Das Radio läuft. Es ist 11:00 Uhr mitteleuropäische Zeit. Drüben in den USA ist es zwei in der Früh. Der Mensch, auf dessen Lifecasting-Seite ich gelandet bin, nennt sich Parris Harris und lebt in Los Angeles. Seit dem 29. Mai 2007 lässt er sich 24 Stunden am Tag beim Leben zuschauen.

Im Livestreaming-Videofenster sieht man vage die Umrisse von Möbeln, eine Stehlampe, ein Sofa. Wenn sie ausgehen, tragen Lifecaster die Kamera mit sich, setzen sie als Brille auf, schnallen sie als Stirnband oder Gürtel um. 20.000 von ihnen gibt es, sagt Wikipedia. Gut 250 senden permanent auf Justin TV.

Harris tippt

Im Bildausschnitt ein nackter Oberkörper. Ein bisschen zu muskulös und durchtrainiert. Bin ich auf einer Pornoseite? Da, eine Haarlocke. Gesicht noch immer außerhalb des Bildausschnitts. Schöne Hände. Harris löffelt ein Yoghurt. Harris geht herum und ab und zu gibt er einen grunzenden Laut von sich.

Lifecasting hat den Voyeur so bitter notwendig wie den Akteur. Ich warte, was passiert. Am linken oberen Bildrand laufen die Zuschauerdaten mit: Viewers, also Zuseher: 14 Views, Anzahl der Beobachtungen: 1.228.725.

Auch Harris ist nicht alleine. Er hat die Daten im Auge, auf seinem Bildschirm. Er weiß, er wird gerade von 14 Personen beobachtet. Das ändert sich bald alle 20 Sekunden. Er kann darauf reagieren.

Ich lifecaste nicht mehr

Meine Interviewanfragen bleiben ohne Resonanz. Parris Harris will nicht antworten, Parris Harris will gesehen werden. Nur eine Person mit dem Pseudonym "jspin" reagiert im Chatroom auf meine Anfrage, allerdings nur schriftlich. Er ist ein Entwöhnter, schreibt er: "Als ich mit dem Lifecasting begann, wollte ich den Menschen zeigen, wie ich lebe und was ich tue. Nach einem Jahr war ich ein Affe. Ein Affe, der gezwungen ist, ständig Show zu machen. Die Menschen hatten wenig Respekt für meine Bedürfnisse und wollten, dass ich ständig hier sitze. Aber ich hatte nichts mehr zu zeigen."

Willkommen auf Dennis TV!

"Hi. Mein Name ist Dennis. Willkommen auf Dennis TV!", kann man im Text unterhalb des Videofensters auf seiner Channel-Seite lesen. Dennis ist 24 und versucht sich gerade in Karaoke, ist seit einem Jahr Lifecaster. Er bewegt den Mund. Augen geschlossen. Dann kurzer Augenkontakt mit der Kamera.

Nebst seiner eigenen Person bewirbt Dennis ein Energiegetränk, schiebt es ab und zu zwischen sich und die Kamera. Ein Interview? Absage.

Protokoll der Belanglosigkeit
Psychologen wittern hinter Lifecasting Einsamkeit und Kommunikationsunfähigkeit, Kontaktvermeidung durch Dauerkontakt. Durch den extremen Zoom ins Private wird die letzte Schuppe Individualität weggeblasen, das Private aufgelöst. Manche Lifecaster machen daraus ein Kunstprojekt, manche ein Businessmodell, wieder andere geben einfach nur Zeugnis eines traurigen Exhibitionismus, einer Aufzeichnungsgier.

Spekulativ die, die dahinter gar ein politisches Konzept wissen wollen, je nachdem auf wen sich die Kamera richtet: nämlich das Konzept der "Sousveillance", der Wachsamkeit von unten.

Wenn Dennis singt, Harris schnarcht und Vaughn vor seinem Bildschirm flucht, wenn sie all das vor laufender Kamera tun und ich ihnen dabei zuschaue, dann hinterlegt das die menschliche Würde mit einem Schatten. Ein endloser Faden des Daseins im Als-Ob. Ein einziger Wirbel aus audiovisuellem Rauschen. Der Mensch ist ein Mangel-, vor allem aber ein Langeweile-Wesen.

Hör-Tipp
Digital.Leben, Dienstag, 13. Jänner 2009, 16:55 Uhr

Links
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justin.tv
kyte.tv

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