Anpassungsprobleme

Empörung

Philip Roths neuer Roman "Empörung" handelt im Wesentlichen von Anpassungsproblemen eines Jugendlichen im Amerika der 1950er Jahre. Es ist ein Buch über den permanent von Regeln anderer Menschen gestörten Prozess der Selbstfindung und Selbstbestimmung.

Ein typisches Philip-Roth-Setting: Newark, New Jersey, Anfang der 1950er Jahre. Kleine Häuser, saubere Gärten, properes Kleinbürgertum mit unverkennbar europäischen Wurzeln. Italiener, Polen, Deutsche, viele Juden, die meisten von ihnen aus Osteuropa und Russland zugewandert und höchstens in der zweiten oder dritten Generation US-Bürger. Allesamt Patrioten, natürlich, und doch auch immer noch im zurückgelassenen Leben zu Hause.

Die Pogrome sind nur mehr Erinnerung, der Holocaust ist ein dunkler Schatten, es gibt Zukunft und Sicherheit – und dennoch: auch Newark, New Jersey ist letztlich ein Schtetl, wo man unter sich bleibt, wo man einander kennt und vertraut, wo man untereinander heiratet und miteinander Geschäfte macht. Man ist Amerikaner, aber vor allem ist man Jude. Und als junger Mann ist man Sohn, erdrückt von der Liebe und mehr noch von steter elterlicher Fürsorge.

Das Leben als Sohn

Über diesen Liebesterror und die daraus hervorgehenden Neurosen haben jüdisch-amerikanische Autoren immer wieder geschrieben, über dieses lebenslange Ausgesetztsein mütterlicher und väterlicher Autorität und Sorge - weit über deren Tod hinaus. Als er zu jener Zeit, also zwischen 1950 und 1954 am College gewesen sei, erzählt Philip Roth im Gespräch, habe er dieses Gefühl gesellschaftlicher und familiärer Repression noch nicht benennen können. Doch das Leben als Sohn war für ihn seit seinem ersten Buch "Goodbye Columbus" aus dem Jahr 1959 ein zentrales Thema. Anhand dessen schilderte er die doppelte - und doppelt schmerzhafte - Sozialisation als Jude und als Amerikaner.

Ob sie nun Alexander Portnoy, Nathan Zuckerman und - im Fall des neuen Romans "Empörung" - Marcus Messner heißen: Den männlichen Protagonisten in Roths Romanen ist die Erfahrung der Repression sowohl durch die Familie als auch durch die Gesellschaft gemeinsam. Beide funktionieren nicht nach denselben Regeln, weshalb der amerikanische Jude nach Roth eine zutiefst gespaltene Persönlichkeit ist. Er ist gleichermaßen aufgehoben in der kollektiven Geschichte des Judentums und verloren in der versuchten Distanznahme von eben diesem historischen Gepäck.

Auflehnung gegen Autoritäten

"Empörung" handelt im Wesentlichen von Anpassungsproblemen eines Jugendlichen im Amerika der 1950er Jahre. Es ist ein Buch über den permanent von Regeln anderer Menschen gestörten Prozess der Selbstfindung und Selbstbestimmung. Ein Buch der Auflehnung gegen Autoritäten also, auch wenn der Roman wie eine Geschichte über den Krieg beginnt, über den ersten Stellvertreterkrieg nach 1945.

Ungefähr zweieinhalb Monate nachdem die gutausgebildeten, von den Sowjets und den chinesischen Kommunisten mit Waffen ausgerüsteten Divisionen Nordkoreas am 25. Juni 1950 über den 38. Breitengrad vorgedrungen waren und mit dem Einmarsch in Südkorea das große Leid des Koreakriegs begonnen hatte, kam ich aufs Robert Treat, ein kleines College in Newark.

So lautet der erste Satz - und er bedeutet nichts anderes, als dass der Krieg, den die Amerikaner anderswo auf der Welt führen, auch zuhause stattfindet. Dazu bedurfte es nicht erst 9/11. Korea war weit und doch auch für jeden Bürger eine reale Bedrohung.

Winesburg, Ohio

Der Hintergrund des Romans, sagt Philip Roth, sei zwar der Koreakrieg, das Buch handle aber von einem jungen Mann, der mit den Problemen des Erwachsenwerdens konfrontiert ist, die in der Angst münden, eingezogen zu werden und zu sterben, wenn er das College verlassen muss.

Das ist auch der Grund für die Empörung Marcus Messners, Sohn eines koscheren Fleischhauers in Newark: dass nämlich das Unverstandensein und die Auflehnung nicht nur den Zorn der Eltern oder eine Zurechtweisung durch die Collegeleitung zur Folge hat, sondern den Zugriff des Staates in Form eines Einberufungsbefehls. Welches Erziehungssystem könnte repressiver sein als jenes, welches Ungehorsam mit einem Fronteinsatz bestraft?

Dass Marcus, um dem Machtbereich seiner Eltern zu entkommen, sich für ein College in Winesburg, Ohio, bewirbt, ist kein Zufall. "Winesburg, Ohio" ist der Titel eines Klassikers der modernen amerikanischen Literatur, eines düsteren Kurzgeschichtenreigens von Sherwood Anderson aus dem Jahr 1919.

Er habe die Geschichte im Herzen des Landes ansiedeln wollen, sagt Philip Roth. Sherwood Anderson erzähle in seinem Buch über Klaustrophobie und Repression in einer amerikanischen Kleinstadt. Und genau dorthin, in dieses enge, bigotte Winesburg, in die auswegloseste aller Sackgassen schickt Roth seinen Protagonisten. Noch dazu ein katholisches College, an dem ein junger Mann aus jüdischem Hause, dessen einziges Glaubensbekenntnis der Atheismus ist, zwangsläufig scheitern muss.

Fehlende Kommunikation

Der Witz und zugleich die Tragödie an der Sache ist aber, dass Marcus Messner tatsächlich eingezogen wird und in Korea fällt. "Sie können mich mal." Einer größeren Verfehlung als diesen Satz auszusprechen, bedarf es dazu nicht. Damit nicht genug, widerfährt ihm das Schlimmste, was einem Atheisten widerfahren kann: Er ist zum ewigen Leben verdammt. Das heißt: Marcus Messner, der seine Geschichte vom gescheiterten Aufstand gegen die Autoritäten erzählt, ist bereits tot. Er schmort in der Hölle des ewigen Lebens und berichtet von dort rückblickend über das kurze Leben eines jungen Mannes, der nichts weiter wollte, als nach eigenen Maßstäben glücklich sein. Am Ende des Romans legt Roth seinem Erzähler sogar noch eine moralisierende Bemerkung in den Mund:

Auf welch furchtbare, unbegreifliche Weise doch die banalsten, zufälligsten und sogar komischsten Entscheidungen die unverhältnismäßigsten Folgen haben können.

Aber - und davon handelt der Roman eben auch - diese Unverhältnismäßigkeit ist nicht schicksalsbedingt oder göttlicher Wille, sondern ausschließlich das Resultat fehlender oder mangelhafter Kommunikation in einem hierarchisch gestaffelten Gesellschaftssystem. Das ist heute nicht anders als vor 50 Jahren, die Debatten über Armutsbekämpfung, Integration und Asylrecht führen uns dies täglich vor Augen.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 8. Februar 2009, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Philip Roth, "Empörung", aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz, Hanser Verlag

Links
Hanser Verlag - Empörung
Philip Roth Society