Geschichte einer Entführung

Bunker

Aus wechselnden Perspektiven erzählt Andrea Maria Schenkel die Geschichte einer Entführung. Rache und Gerechtigkeit, Verbrechen und Strafe, Vertuschung und Aufdeckung sind jedoch keine Kategorien, nach denen Andrea Maria Schenkels Romane funktionieren.

Eine Frau allein in einem Raum. Es ist still, nichts passiert. Die Frau blickt zum Fenster hinaus, sie versucht, aus Langeweile, Kitt aus dem Fensterrahmen zu kratzen. Dann geht sie zum Bett, lässt sich auf die Matratze fallen, fängt an, vor sich hin zu summen und mit dem Oberkörper zu wippen. Schließlich betrachtet sie ihre Nägel, die Zehen- und die Fußnägel, beginnt an ihnen herumzufummeln, Dreck und Lackreste zu entfernen. Sie sieht, wie eine Fliege langsam über den Tisch krabbelt, betrachtet aufmerksam, was das Insekt macht. "Sie ist hier in diesem Raum eingesperrt genau wie ich, sie ist meine Mitgefangene", sagt die Frau zu sich selbst. "Hallo Mitgefangene! Was können wir machen, um hier rauszukommen?"

Die Frau ist nicht freiwillig in dem Raum mit der Fliege. Sie wird hier festgehalten und versteckt. Man hat sie überfallen, geschlagen, entführt. Jetzt sitzt sie seit Tagen in einer alten Mühle mit Bunker irgendwo in verlassener Gegend.

Quälende Ungewissheit

Wie reagiert ein Mensch, der plötzlich aus der Normalität herausgerissen ist, der nicht weiß, was auf ihn zukommt, ob er misshandelt, getötet oder schließlich doch freigelassen werden wird? Das untersucht Andrea Maria Schenkel in ihrem neuen, knapp und schnörkellos erzählten Roman, "Bunker".

"Am Anfang hat man bestimmt Angst. Sie überwältigt einen, sie ist einfach da und man hat bloß den Eindruck, ich möchte jetzt weg, ich möchte hier raus", meint die Autorin. "Aber man gewöhnt sich unheimlich schnell an eine Angst. "Das war das Interessante, wie beschreibt man das? Es passiert ja nicht allzu viel."

"Verwandte Seelen"

Aus wechselnden Perspektiven erzählt Andrea Maria Schenkel die Geschichte einer Entführung, einer Ohnmacht, eines tödlichen Komplotts. Da ist ein Mann, er ist kräftig, trägt Armeesachen und hat eine seltsame Frisur mit kahlrasierten Streifen, der eine Frau, die Angestellte einer Autovermietung, überfällt, verschleppt und gefangenhält, nachdem er zuvor ihre Lebensverhältnisse ausspioniert hatte. Geht es um Geld? Will er sich an ihr vergehen? Wird sie Opfer einer Erpressung? Vorerst passiert gar nichts.

Und da ist die Frau, die Entführte, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Sie führte ein zurückgezogenes Single-Dasein, ein unauffälliges Sekretärinnen-Leben. Warum gerade ich, fragt sich die Entführte. Was will der Kerl von mir? Wie komme ich hier wieder raus?

"In gewisser Weise sind sie sehr verwandte Seelen", so Schenkel. "Sie sind beide absolut isoliert. Sie leben beide vor sich hin. (...) Ihr ist es vielleicht bis zu dem Zeitpunkt, da sie da eingesperrt ist, nicht einmal so stark bewusst geworden, wie wenig sie mit ihrer Umwelt kommuniziert. Hätten sie sich unter anderen Umständen kennengelernt, wäre das Ganze womöglich ganz anders ausgegangen - hätte man vielleicht auch eine Liebesgeschichte daraus machen können."

So aber wird es keine Liebes-, sondern eine blutige Geschichte, die Schenkel in kurzen Szenen entwickelt, im Wechsel von inneren Monologen, von Täter- und Opferperspektive, dazwischengeschnitten Abschnitte eines auf einer späteren Zeitebene spielenden, nüchtern protokollierten Rettungseinsatzes.

Biografische Bruchstücke

Spannung gewinnt der Roman vor allem dadurch, dass die alternierenden Monologe zwar einiges über subjektive Wahrnehmungen, Erinnerungen und Alpträume verraten, nichts aber über die Pläne und Motive des Täters. Was er vorhat, bleibt im Dunkeln.

"Es ist die Geschichte einer Annäherung", erklärt Schenkel. "Am Anfang stand dieser Überfall - der dann gänzlich falsch gelaufen ist. Alles was er dann macht, ist eher eine Reaktion auf das Vorangegangene als dass es wirklich ein Plan ist."

Es dauert eine ganze Weile, bis der Leser wenn schon kein schlüssiges Persönlichkeitsbild, so doch einige biografische Bruchstücke erhält. Er, der Mann, hatte eine schlimme Kindheit, war im Heim und im Gefängnis. Sein Vater, der einst den Bunker baute, war Alkoholiker, jähzornig, brutal und kriminell, hat die Mutter eingesperrt und geschlagen und war jahrelang in Haft wegen Diebstählen und Gewaltdelikten. Auf diesen Vater hat er einst mit dem Messer eingestochen, als der ihn im Suff angegriffen hatte.

In einer Extremsituation

Auch die Frau, das Opfer, schleppt ein Kindheitstrauma mit sich herum. Als sie vor vielen Jahren ihren Halbbruder mit ihrem Sparschwein ertappte, rastete sie völlig aus und schlug wie von Sinnen auf ihn ein. Als der Bruder dann früh ums Leben kommt, bezichtigt sie den Außenseiter des Dorfes, einen kräftigen, einfältigen Jungen namens Hans, des Totschlags, ohne wirklich Beweise zu haben. Ist vielleicht ihr Entführer jener Hans, der eine späte Rache üben will?

"Sie ist in einer absoluten Extremsituation", so Schenkel. "Es ist tatsächlich so, dass sie verroht. (...) Sie lernt höchstwahrscheinlich mehr über ihre eigenen Abgründe - oder der Leser - als der Entführer. Mich hat die Situation unheimlich interessiert: Wie verändert man sich? Was macht man?"

So wie er sie an Hans erinnert (und damit an ihr schlechtes Gewissen), erinnert sie ihn an seine Mutter, eine Frau, die er liebte, aber nicht beschützen konnte. Doch anders als diese fügt sich die Bunker-Gefangene nicht in ihr Schicksal. "Ich brauche einen Plan", sagt sie. Sie überlegt, wie sie entkommen kann, macht einen Ausreißversuch, greift den Entführer mit glühenden Holzscheiten an, verletzt sich schwer und ersinnt schließlich einen "Deal": Sie will ihren Chef unter Vorspiegelung eines Liebesabenteuers in die alte Mühle locken und ihm den Schlüssel zum Tresor der Firma rauben - und sich mit dem Geld ihre Freiheit zurückkaufen. Es wird ein tödlicher Plan.

Eindringlich zeigt Schenkel, wie ein Mensch, in Todesangst, keine Skrupel mehr kennt, wie er, um die eigene Haut zu retten, einen Unschuldigen opfert, wie Kalkül in Hysterie umschlägt. "Stich das Schwein ab" schreit die Frau ihren Entführer an, der scheinbar ohne dabei etwas zu empfinden den Mord verübt.

Keine Lösung

Passiert auf den ersten 100 Seiten von "Bunker" eher wenig, so überschlagen sich am Ende die Ereignisse: ein Mord, ein Entführer, der in seine eigene Falle tappt, eine abenteuerliche Selbstbefreiung, ein Messer-Attentat, ein Rettungseinsatz. Das entscheidende Motiv aber, das alles erst ins Rollen brachte, den eigentlichen Grund für die Entführung enthält Andrea Maria Schenkel dem Leser vor.

"Das ist genau der Grund, warum der klassische Krimileser mit meinen Büchern Schwierigkeiten hat", meint Schenkel, "weil ich eben die Lösung nicht anbiete. (...) Ich möchte keine Lösung haben, auch im normalen Leben hat man keine Lösung."

Beschreibung, nicht Erklärung

Rache und Gerechtigkeit, Verbrechen und Strafe, Vertuschung und Aufdeckung sind keine Kategorien, nach denen Andrea Maria Schenkels Romane funktionieren, seien es nun "echte" Krimis oder nicht. Auch Herkunft und Milieu werden nicht wirklich ausgeleuchtet und als verhaltensbestimmend betrachtet. Es geht um Beschreibung, nicht um Erklärung. Um Wahrnehmungen, die tiefer blicken lassen, und doch nicht bis zum Grund. Um eine Fliege, die über einen Tisch läuft, und bei der Betrachterin Neugier, Überdruss und schließlich Aggressivität auslöst. Das mag für den Leser, der die "ganze Wahrheit" zu erfahren trachtet, unbefriedigend sein, konsequent ist es zweifellos.

Die Welt, von der Schenkels Romane erzählen, und vielleicht auch die Welt außerhalb dieser Romane, ist eine sinnlose Welt. "Es ergibt keinen Sinn", sagt die "Heldin" von "Bunker", als sie zu verstehen versucht, warum der Entführer es auf sie abgesehen und warum er aus ihrer Wohnung ein Bild von ihr mit ihrem Halbbruder entwendet hat. "Es ergibt keinen Sinn", sagt sie, als ihr im Traum ihr Bruder erscheint, der allzu schnell vor sich hinplappert. Und fügt hinzu: "Nur langsam fange ich an, ihn zu verstehen".

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 1. März 2009, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Andrea Maria Schenkel, "Bunker", Edition Nautilus