Historisches und Fiktives in der Zeit der Renaissance

Die bezaubernde Florentinerin

Salman Rushdie entführt die Leserinnen und Leser in die Zeit der Renaissance. Viele historische und fiktive Figuren tummeln sich auf immerhin 450 Seiten dieses sehr nachdenklichen und sehr philosophischen Romans, den Salman Rushdie hier geschrieben hat.

"Die Vergangenheit ist ein Licht, das, entsprechend ausgerichtet, die Gegenwart heller erleuchtet als jede moderne Lampe."

Diese Worte legt Salman Rushdie in seinem neuen Roman dem Florentiner Renaissance-Politiker und Staatstheoretiker Niccolo Machiavelli in den Mund.

In der Vergangenheit

Salman Rushdie hat seine Romane, auch wenn diese durchwegs in der Gegenwart spielen, auch schon bisher ausgiebig mit geschichtlichem Material angereichert, die Schicksale seiner Romanfiguren intensiv mit den historischen Ereignissen ihres Lebens verkoppelt.

Diesmal hat Salman Rushdie - im Gegensatz zu seinen früheren Romanen - die Gegenwart gänzlich außen vorgelassen und einen rein historischen Roman verfasst. Der Politiker, Republikaner und Denker aus dem Florenz des frühen 16. Jahrhunderts, Niccolo Machiavelli, spielt darin ebenso eine zentrale Rolle wie seine beiden besten Freunde aus Kindertagen.

Kindheitsfreunde Machiavellis

Da ist einmal ein Agostino Vespucci, Cousin jenes Amerigo Vespucci, der als erster Europäer erkannte, dass die von Christoph Kolumbus entdeckten Inseln und Länder jenseits des atlantischen Ozeans weder zu Indien gehörten noch sonst einen Teil Asiens bildeten, sondern einen ganzen, zuvor unbekannten Kontinent darstellten - Amerika, wie die neue Welt Amerigo zu Ehren bis heute genannt wird.

Den zweiten Kindheitsfreund Machiavellis, einen gewissen Argalia, verschlagen die Fügungen des Schicksals als Heerführer und General der osmanischen Elitetruppe der Janitscharen an den Hof des Sultans in Istanbul, in das erst kürzlich von den Osmanen eroberte ehemalige Konstantinopel.

Man sieht, Salman Rushdie holt weit aus, um die weltweiten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Umbrüche des 15. und 16. Jahrhunderts in einen Roman zu verpacken. Das ist aber noch nicht alles.

Der blonde Mongole

Die eigentliche Romanhandlung dreht sich um die Frage: Wer ist Niccolo Vespucci? Dieser junge Mann aus Florenz taucht im Jahr 1572 plötzlich in der Residenz des indischen Mogul-Königs Akbar des Großen in der Stadt Fatehpur Sikri auf. In seinem Reisegepäck führt er ein angebliches Schreiben der englischen Königin Elisabeths I. mit, in dem diese dem indischen Herrscher vorschlägt, an der Seite Englands in dessen Kriege mit Spanien, Portugal und dem Papst einzutreten.

Weiters behauptet der großgewachsene Italiener noch, er sei ein Blutsverwandter des Großmoguls. Dafür wiederum sei eine "verschwiegene", nämlich aus den Familienannalen getilgte, weil abtrünnige mongolische Prinzessin verantwortlich, die auf komplizierten Wegen erst in Florenz gelandet, und zuletzt gar nach Amerika ausgewandert sei. Sie, diese grandiose Schönheit mit unheimlichen, zauberischen Kräften, gibt dem Roman auch den Titel: "Die bezaubernde Florentinerin". Der Großmogul und seine Berater sind erstaunt, zumal der junge Mann knallblond ist und äußerlich so gar nichts Mongolisches an sich hat.

Illustre Persönlichkeiten der Geschichte

Florenz in Italien, die Medici-Fürsten und ihre Gegner, die englische Königin und ihre Piraten-Flotte unter dem Kapitän Sir Francis Drake, diverse osmanische Sultane und ihre Heerführer und Wesire, der indische Großmogul Akbar und sein Kabinett, dann der genuesische Admiral und Freibeuter Andrea Doria, nebenher der schiitische Schah Ismail I., der Begründer der persischen Safawiden-Dynastie, weiters der walachische Fürst Vlad, bekannt unter seinem Beinamen Dracula, und noch einige mehr illustre Persönlichkeiten aus der Geschichte - sie bilden die Personage, die Salman Rushdie auftreten lässt, um die wahre Identität und Herkunft jenes Niccolo Vespucci zu klären, der akzentfrei 14 europäische und orientalische Sprachen spricht und behauptet, ein Onkel des mongolischen Herrschers Indiens zu sein.

Es ist ein mächtiges Garn, das Salman Rushdie da spinnt, und angesichts der Weitläufigkeit der Erzählung, der monströsen internationalen Verwicklungen und der Masse der historischen wie auch fiktiven Figuren, sind die immerhin 450 Seiten dieses Romans sogar noch knapp bemessen.

In der Tat ist das Faktum, dass sein Text nicht völlig ausufert, Salman Rushdies meisterhafter Erzählkunst zu verdanken: der Übersicht und Disziplin, mit der er die zahllosen Handlungsstränge lenkt und zusammenhält - oder immer wieder zusammenführt; seiner Fähigkeit, in wenigen Zeilen Figuren zu entwerfen, auf wenigen Seiten komplexe geschichtliche Ereignisse und ganze historische Abläufe darzustellen; seinem Geschick, die Dinge miteinander zu verweben und zu verschränken und in jedem Detail immer den Bezug zum Ganzen herzustellen; seiner bildreichen und assoziativen Fabulierkunst, die andererseits immer bei der Sache bleibt, sodass man konstatieren kann, dass sich in den 450 Seiten dieses Romans eigentlich kein einziger unnötiger Satz findet.

Ist Gott ein großer Irrtum?

Dass Rushdie vielleicht der grandiosesten Erzähler der Gegenwartsliteratur ist, muss seinen Leserinnen und Lesern vermutlich nicht eigens gesagt werden. Gleichsam nebenher nutzt Rushdie seinen Roman, um einmal mehr seine zentralen Botschaften als Schriftsteller und als Denker zu transportieren: "Ich brauche keinen Gott, keinen obersten heiligen Schiedsrichter, um ein moralisches Wesen zu sein", formulierte der bekennende Atheist sie einmal in einem Interview.

Vor allem Akbar, den indischen Mogul-König lässt er ausgiebig über die Frage spekulieren, ob Gott nicht schlicht ein großer Irrtum sei:

Warum, so fragte er sich, sollte man an einer Religion festhalten, nur weil sie von den Vätern überliefert war? Wenn Gott bloß eine vertraute Gewohnheit war, nur ein ewiges Weiterreichen, dann werden die Irrtümer genau so weiter gereicht, wie die Tugenden. Er wollte jemandem von seinem Verdacht erzählen, dass die Menschen sich ihre Götter geschaffen hatten, so und nicht anders herum. Aber wenn der Mensch Gott geschaffen hatte, konnte er ihn auch wieder abschaffen.

Bunter Bilderreichtum

Salman Rushdie geht in seiner Religionskritik sogar noch weiter. Vielleicht sind es im Gegensatz zu weit verbreiteten Ansichten nicht Gott und die Religionen, die den Menschen dazu anhalten, gut zu sein - möglicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall: Die Menschen benötigen ihren allmächtigen Gott, dessen Einverständnis und vor allem dessen Vergebung, um überhaupt erst so richtig böse sein zu können. Ohne Gott wären viele der Gräuel und Massaker der Geschichte vielleicht gar nicht möglich. Rushdie in den Worten seines philosophierenden Großmoguls:

Er begriff, sein Fluch bestand darin, dass die Menschen auch in Zukunft ihre Nachbarn hassen und einander erschlagen würden in jener großen Fehde, die er zu beenden gehofft hatte, den Streit um Gott.

Bei allem bunten Bilderreichtum, bei aller Vielfalt seiner weit ausholenden Handlung, bei all den Schauplätzen auf vier Kontinenten und seinen Sprüngen durch Raum und Zeit, bei all den Heerscharen von Adeligen und Huren, Handwerkern und Bauern, Fürsten, Denkern und Soldaten, die hier auftreten, bei aller meisterhaften erzählerischen Präzision, die dieses enorm große Panorama zusammen hält - es ist zuletzt ein sehr nachdenklicher und ein sehr philosophischer Roman, den Salman Rushdie mit der "bezaubernden Florentinerin" geschrieben hat.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 6. März 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 8. März 2009, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Salman Rushdie, "Die bezaubernde Florentinerin", aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben, Rowohlt Verlag

Link
Rowohlt - Salman Rushdie