Die Literaturwissenschaftlerin Irena Veisaitė

Ich liebe dieses Land

Kurz nachdem Litauen von den Nazis besetzt wurde, kam sie in das Ghetto von Kaunas. Ihre Mutter wurde im Juli 1941 ermordet. Irena Veisaite lebt heute in Vilnius. Sie ist Theaterkritikerin und Gründerin der litauischen Soros-Stiftung.

Irena Veisaitė über Antisemitismus

Als Theaterkritikerin, Literaturwissenschaftlerin, Mitbegründerin der litauischen Soros-Stiftung und Kuratoriumsvorsitzende des Thomas-Mann-Zentrums in Nida an der Kurischen Nehrung hat Irena Veisaitė die litauische Kulturszene in vielen Rollen belebt. Fast selbstverständlich, dass sie auch im Vorstand der Kulturhauptstadt Vilnius vertreten ist.

Immer wieder muss Irena Veisaitė Auskunft geben über das Verhältnis zwischen Litauern und Juden - zu Hause in Vilnius, aber auch in Deutschland, Österreich oder jüngst bei der Buchmesse in Jerusalem. Sie ist eine der wenigen Jüdinnen, die den Holocaust in Litauen überlebt haben.

Reiches jüdisches Leben

Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Litauen, das bereits im Mittelalter ein mächtiges Staatsgebilde und dann in einer Union mit Polen verbunden war, wieder seinen eigenen Staat begründen. Dessen Hauptstadt war jedoch nicht Vilnius, denn das war von Polen besetzt, sondern Kaunas. Als Irena Veisaitė dort im Jahr 1928 geboren wurde, hatte Litauen bereits den Staatsstreich von Antanas Smetona hinter sich, der seit zwei Jahren einem autoritären Regime vorstand, politische Parteien verbot und sich "Volksführer" nannte.

Das jüdische kulturelle Leben war reich im unabhängigen Litauen der Zwischenkriegszeit: Es gab 117 jüdische Schulen sowie zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften und Theater. Das litauische Judentum war in sich sehr heterogen: religiös, politisch und sprachlich.

Nazideutsche Okkupation

Aufgewachsen ist Irena Veisaitė als litauische Patriotin. Jiddisch war die Sprache ihrer Schule, doch ihre Muttersprache war Litauisch. Die Schulzeit sollte für Irena Veisaitė nur kurz dauern. 1941 wurde Litauen von Nazi-Deutschland besetzt, der Zweite Weltkrieg erfasste das Land.

Um Litauen in dieser Zeit zu verstehen, muss man wissen, dass das Land - wie auch Lettland und Estland - am 15. Juli 1940 von der Sowjetunion annektiert wurde. Ein Jahr davor waren die drei Länder im Hitler-Stalin-Pakt der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen worden. Die sowjetische Okkupation war eine entsetzliche Erfahrung; etwa 23.000 Menschen wurden bei Nacht und Nebel ohne Gerichtsverfahren nach Sibirien deportiert. Ein Großteil von ihnen ist dort umgekommen.

Über 200.000 Juden wurden in Litauen ermordet - etwa 94 Prozent der jüdischen Bevölkerung; der Großteil bereits im Jahr 1941. Lange hat es gedauert, bis Irena Veisaitė erfahren hat, dass ihre Mutter unter ihnen war. Und noch länger, bis sie es glauben konnte. Die nazideutsche Okkupation im Jahr 1941 ging so schnell, dass es für die Juden praktisch kein Entkommen aus Litauen gab. Und im Land waren kaum Überlebenschancen. Überleben bedeutete ein Leben in der Halb-Legalität mit der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Und natürlich war an eine Ausbildung nicht zu denken.

Von der Nazi- zur Sowjetherrschaft

1944 kam die Sowjetarmee nach Litauen zurück. Tausende Litauer flohen, etwa 500.000, so schätz man, wurden bis zu Stalins Tod im Jahr 1953 nach Sibirien deportiert. Antisowjetische Partisanen kämpften bis weit in die 1950er Jahre hinein gegen die Annexion. Doch für Irena Veisaitė war die zweite sowjetische Okkupation trotz allem wie eine Befreiung, denn sie konnte in Moskau studieren.

Man könnte denken, im Sowjetsystem, das seinen Antifaschismus bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit propagierte, hätte man als Holocaust-Überlebende bessere Chancen gehabt oder wäre es ein Verdienst gewesen, eine Jüdin gerettet zu haben. Irena Veisaitė weiß, dass es anders war.

Bald nach Stalins Tod folgte die sogenannte "Tauwetter-Periode". Am 20. Parteitag der KPdSU hielt Nikita Chruschtschow seine berühmte Rede über die Verbrechen Stalins und rechnete mit dem Personenkult ab. Angesprochen auf das Leben in dieser Zeit sagt Irena Veisaitė lapidar: "Es war besser, aber nicht viel besser, und es hielt nicht lange."

Aufbau der Soros-Stiftung

Professorin wurde Irena Veisaitė erst in der nachsowjetischen Zeit. 62 Jahre war sie alt, als Litauen im Jahr 1990 seine Unabhängigkeit erklärte. Es ist ganz und gar nicht selbstverständlich, wie sehr sich Irena Veisaitė mit Litauen identifiziert und das Land als ihre Heimat betrachtet. Es wäre kein Wunder, wenn sie - wie viele andere Juden - weg möchte aus dem Land, wo ihre Familie ermordet wurde. Diesen Wunsch habe es jedoch niemals gegeben, sagt sie: "Ich liebe dieses Land."

Im wiedererrichteten litauischen Staat ergab sich für die neue Professorin Irena Veisaitė eine ganz besondere Herausforderung: Gründung und Aufbau der Soros-Stiftung. George Soros, der amerikanische Investment-Banker ungarischer Herkunft, gründete nach der Wende in allen exkommunistischen Ländern eine Stiftung zur Unterstützung junger Wissenschaftler und Künstler.

Die meisten Attacken, gegen die litauische Soros-Stiftung, erinnert sich Irena Veisaitė, hat es im Jahr 2005 gegeben. Und das hat bei weitem nicht nur mit Litauen zu tun. Attacken gegen ausländische Stiftungen, und ganz besonders gegen Soros, gab es in dieser Zeit auch in Lettland und Russland. Irena Veisaitė sieht Zusammenhänge mit der Politik von Vladimir Putin.

Blick auf die gemeinsame Geschichte

Bei einem Gespräch vor sieben Jahren war Irena Veisaitė der Überzeugung, ein gemeinsamer Blick zwischen Juden und Litauern auf die Geschichte wäre nicht möglich. Heute sagt sie: "Ich hoffe, es wird doch einen gemeinsamen Blick geben. (...) Aber es kann nur einen wirklichen Dialog geben, wenn man anerkennt, was da geschehen ist."

Die Schwierigkeit, das anzuerkennen, liegt vor allem darin, dass die ethnischen Litauer selbst Opfer der sowjetischen Okkupation geworden sind und schwer unter den Deportationen gelitten haben. Auch im Bewusstsein von Irena Veisaitė gehen Holocaust und Gulag eine Verbindung ein, ist doch ihre leibliche Mutter im Holocaust umgekommen und ihre zweite Mutter nach Sibirien deportiert worden.

Die Nazis haben die Juden ermordet, die Sowjets haben zerstört, was von ihnen geblieben ist: den jüdischen Geist, die Kultur, die Erinnerung. So hat es Irena Veisaitė einmal auf eine Kurzformel gebracht.

Verzeihen, um weiterleben zu können

Im Jahr 2008 ist Irena Veisaitė 80 Jahre alt geworden. In einer Rede in der Bernhardinerkirche, wo sich jeden Sonntag viele intellektuell und kulturell tätige Menschen zum Gottesdienst versammeln, hat sie in einer Rede bekannt, dass mit zunehmendem Alter die Erinnerungen an den Holocaust immer klarer aus ihrem Unterbewusstsein hervortreten. Und dass sie noch immer nicht verstehen kann, wie das alles in Europa, in der zivilisierten Welt und in ihrem Geburtsland Litauen geschehen konnte.

Wichtig ist Irena Veisaitė zu sagen, was sie aus der Erfahrung des Holocaust gelernt hat: Andere zu verstehen und die Leiden nicht zu vergleichen; niemals zu denken, dass einem das Leid irgendein Privileg verleiht; niemals ein Volk zu verurteilen für das, was einzelne Menschen getan haben; zu verzeihen, um weiterleben zu können, auch wenn das nicht leicht ist.

Mehr zu allen Sendungen des Programmschwerpunkts "Nebenan: Litauen" finden Sie hier.

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