Kindermund tut vieles kund

Spricht das Kind

Der neue Erzählband von David Wagner umfasst gut 150 stilistisch brillante Prosaminiaturen. Die Überzeugungskraft der vielen kleinen Texte aus Kindermund - der Tochter des Autors - schließt vor allem auch eines ein: Wortwitz und Wortmagie.

Beginnen wir beim Autor, den man hierzulande nicht allzu gut kennt: David Wagner ist 1971 im Rheinland geboren und seit einigen Jahren in Berlin ansässig, in jener jungen Welthauptstadt der deutschsprachigen Literatur.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat sich Wagner mit seinem Debütroman "Meine nachtblaue Hose", in der er über seine Kindheit schrieb, und mit dem Geschichtenband "Was alles fehlt" einen Namen als Vertreter einer jungen Literaturszene gemacht.

Gelobt wurden seine Texte für die gleichzeitige Lakonie und Präzision der Sprache, aus der heraus der Autor kleine Miniaturen aus dem Familien- und Stadtleben entwickelte, umgesetzt nicht allein in streng literarischen Texten, sondern auch in Feuilletons, die unter anderem in der "FAZ" oder in der "Zeit" erschienen.

"Kirschen gegessen" spielen

Zuletzt ist es um David Wagner ein bisschen ruhiger geworden. Wenn man sein neues Buch aufschlägt, weiß man warum: Wagner ist Vater einer Tochter geworden und hat sich um das Kind gekümmert, jetzt folgt daraus der literarische Ertrag.

"Spricht das Kind" nennt sich der neue Band aus gut 150 Prosaminiaturen. Die Überschriften derselben reichen von durchaus vorhersehbaren Einträgen wie "Krokodil", "Hänsel und Gretel" und "Stofftiere" zu Überraschungen wie "Schweinebaumeln", "Duisburger Wasser", "Freibier" oder gar "Todesspritze".

Aber nur keine Angst, denn selbst noch Letzteres, nämlich die "Todesspritze", entstammt einer Kinderwelt, in diesem Fall der Kinderwelt des Vaters: Er, so sagt er in dem Text, habe gern das Spiel "Kirschen gegessen" gespielt, anscheinend eine Rheinländische Spezialität. In diesem Spiel geht es darum, sich einen Ball zuzuwerfen und ihn zu fangen. Wer ihn einmal nicht fängt, hat Kirschen gegessen. Wer ihn ein zweites Mal nicht fängt, Wasser getrunken, dann kommt Bauchweh, Arzt, Krankhaus und Intensivstation, schlussendlich die Todesspritze. Die Grausamkeit des Spiels fällt dem Vater erst auf, als er es mit seiner Tochter wiederholt.

Bezug zur eigenen Kindheit

"Das große Lied vom Mutterglück (der Vater hält sich da zurück)", heißt es in einer aggressiven kleinen Zeile bei Gerhard Rühm, die, wenn es um Familienwelten geht, manchmal ganz gut tut. In David Wagners harmonischen Prosaminiaturen kehrt sich dieser Satz um, denn die Mutter des Kindes ist hier kaum vorhanden und auch die weitere Verwandtschaft erscheint nur sehr peripher.

Im Allgemeinen ist der Vater mit seinem Kind allein; er beobachtet, was es tut und sagt, und bezieht, was solcherart zu hören und sehen ist, gerne auch auf die eigene Kindheit. Da und dort, so scheint mir, greift der Autor dabei auch schon einmal zu Übertreibungen, wie beispielsweise gleich im ersten Text, der wie viele andere des Bandes kaum länger als eine halbe Seite ist. Von sieben Kinderwägen, die verbraucht wurden, ist da die Rede: Nummer eins wurde zu klein, Nummer zwei war zu schwer, Nummer drei ging kaputt, Nummer vier wurde gestohlen, Nummer fünf blieb in Spanien, Nummer sechs verlor ein Rad, Nummer sieben fährt immer noch, wird aber jetzt nicht mehr gebraucht. Mir selbst, der ich in solchen Dingen nicht ganz unerfahren bin, kommt es sehr unwahrscheinlich vor, dass jemand in der Modellwahl so oft danebenhauen kann.

Große Pizza Pfütze

Während vom Vater (dem stilistisch stets brillanten Autor) da und dort wohl ein klein bisschen geschwindelt, oder sagen wir anders: die Wirklichkeit ins Feuilleton gesteckt wird, kommt die Überzeugungskraft der vielen kleinen Texte aus dem Kindermund, und das schließt vor allem auch eines ein: Wortwitz und Wortmagie. Parmesan beispielsweise wird zum Essen verlangt, weil das Wort schön klingt, und eine Pfütze ist eine große Pizza, sagt das Kind (wie der Vater stolz anmerkt) lange vor seinem dritten Geburtstag. Ein halbes Jahr später darauf angesprochen, bekommt der Herr Papa vom Kind zu hören, dass das doch ein Riesenquatsch und eine Pfütze niemals eine Pizza sei, egal wie groß.

Nach und nach lernt das Kind seine Kinderwelt kennen. Lernt, dass es Kinderteller, Kinderbetten, Kindersitze, Kinderbücher, Kinderfahrräder und Kindergärten gibt. Inszeniert sein Leben als Vorführung seines Kindseins. Aber auch der Erwachsene bleibt vom Kindsein nicht unberührt, wird selbst zum Kind und zitiert seine eigene Kindheit herbei.

Keine stillen Momente

David Wagner beschreibt dies, aber er beschreibt auch das gegenteilige Phänomen: die Verantwortung, die dem Vater zukommt und an der er wächst, manchmal auch nur in eine Nebenrichtung wie zum Beispiel in diesem Satz: "Seit ich ein Kind habe, trenne ich meinen Müll."

Was den Beobachtungen von David Wagner abgeht, ist ihre Vorgeschichte - eine Erwartung, die für Peter Handkes "Kindergeschichte", diesem unerreichtem Genre-Vorbild, zentral ist. Bei Handke heißt es gleich zu Beginn des Buches: "Ein Zukunftsgedanke des Heranwachsenden war es, später mit einem Kind zu leben. Dazu gehörte die Vorstellung von einer wortlosen Gemeinschaftlichkeit und kurzen Blickwechseln."

Eben das, nämlich die wirklich starken und stillen Momente zwischen Vater und Kind fehlen bei David Wagner gänzlich, und nicht einmal der goldigste Kindermund tröstet uns über dieses Versäumnis hinweg.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
David Wagner, "Spricht das Kind", Droschl Verlag

Links
David Wagner
Droschl Verlag - Spricht das Kind