Fußballfan mit schönen Beinen

Keine Kunst

Péter Esterházy ist ein Spieler. Er spielt meisterlich mit der Wirklichkeit und der literarischen Fiktion, strickt aus beidem ein kunstvolles Prosagewebe. Im Zentrum von Esterházys Text steht seine Mutter - mit schönen Beinen und als Fußballfanatikerin.

Das Cover lässt keinen Leser kalt: Zwei schön geformte Frauenbeine berühren einen Stapel Bücher. Und ein schwarzer Schlüpfer mit hohem Stöckel konkurriert mit einem Profifußballschuh. Zwischen den Büchern und dem einen Frauenbein steht fast versteckt die Bezeichnung "Roman". Im ungarischen Original fehlt diese Genrezuweisung ganz. Der neue große Prosatext von Péter Esterházy trägt den Titel "Keine Kunst". Esterházys treue Leser erwarten aber von ihm kunstvolle Prosa und nicht: keine Kunst - oder: keinen Roman! Doch dieser abweisende Titel bezieht sich auf eine Stelle im Buch, in der der Autor seine Mutter sagen lässt, was keine Kunst ist: Nämlich wenn man über Fußball schreibt in Form von Kunst-Prosa. So etwas sei purer Kitsch.

Die kleinen Mythen, die alt gewordenen Spieler, (...), dieses ganze ekelerregende Sichwärmen an den Lügen der zuckrigen Erinnerungen, am einlullenden, geilen Lagerfeuer der Lügen, das ist es!, und die großen Mythen, die Fußballnation, (...), ein Sentimentalschlick, mein Junge, die Parodie des Nationentodes, Larmoyanz, Kitsch!

Nun erwähnt aber Péter Esterházy in "Keine Kunst" öfters ein anderes Buch, das er 2006 veröffentlicht hat: "Deutschlandreise im Strafraum". Und hier schreibt er kunstvoll über Fußball. Wie das?! Er wäre halt nicht immer konsequent, meint Esterházy, und außerdem müsse man seiner Mutter nicht immer gehorchen.

In Wahrheit ist aber Péter Esterházy ein konsequenter Autor. Mit Konsequenz führt er seine Leser in einen Sprach-, Gedanken- und Assoziationsdschungel, lässt aber die Leser nicht allein im Prosatropenwald stehen, sondern nimmt sie bei der Hand und führt sie ins vermeintlich Offene. Um es vorwegzunehmen: In "Keine Kunst" ist das Offene der Fußballplatz.

Ratschläge für alle Lebenslagen

Im Zentrum des Geschehens steht die Mutter - mit schönen Beinen und als Fußballfanatikerin. Schon einmal hat der Autor ein Buch über die Mutter verfasst: "Die Hilfsverben des Herzens" von 1985. Hier schilderte Esterházy das Sterben seiner Mutter. Und an einer Stelle heißt es, der Autor würde später noch genauer über das Leben seiner Mutter schreiben. Hat also Péter Esterházy seit rund 20 Jahren geplant, über seine Mutter ein größeres Buch zu schreiben? "Nein, so nicht", entgegnet Esterházy, "aber es ist dann doch so, dass viele meiner Bücher so Zusammenhänge haben. (...) Irgendwie arbeite ich so, dass unwillkürlich Serien entstehen."

In "Keine Kunst" lebt also die Mutter, gibt ihrem Sohn Ratschläge für alle Lebenslagen und rennt andauernd auf den Fußballplatz. Nun weiß man, dass Schriftsteller, die Autobiografien verfassen, es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Daher darf man Péter Esterházy rund heraus zwei Fragen stellen: War seine Mutter wirklich so ein großer Fußballfanatikerin? Und hat Ferenc Puskás, der größte ungarische Fußballspieler aller Zeiten, wirklich die Mutter so verehrt?

"Ja natürlich, meine Mutter verstand phantastisch viel von Fußball", so Esterházy. "Und diese Liaison mit Puskás, das war wirklich peinlich. In der Familie, das sprach sich herum."

Ständige Anwesenheit von Angst

Péter Esterházy ist ein Spieler, er spielt meisterlich mit der Wirklichkeit und der literarischen Fiktion, strickt aus beidem ein kunstvolles Prosagewebe, das für sich selbst Realität beansprucht. In "Keine Kunst" kann die Mutter, mütterlich, hart, ehrlich, lügnerisch, wunderschön, alt und auch ein Vamp sein.

Sie kann aber auch Angst haben. So hat sie in Angst gelebt als die russischen Soldaten 1945 kamen und auch als die altadelige Familie Esterházy während des kommunistischen Regimes von János Kádár unter Beobachtung stand.

Ich sah immer einen harten Zug in ihren wunderschönen Katzenaugen, ein stumpfes, ständiges Aufblitzen, die ständige Anwesenheit von Angst. Sie hatte Angst, dass uns etwas zustößt, und sie zitterte um unseren Vater. (...) Ich sage nicht, dass sie auf dem Fußballplatz anders wurde, aber sie wurde anders, sie konnte die Furcht verschleiern, die verschleierte sie mit ihrer Freiheit.

Das vermeintlich Offene

Wenn man diese Zeilen gelesen hat, dann fragt man sich: Ist Fußball das Spiel, bei dem man die Angst vor der grausamen Wirklichkeit los wird? "Angst", meint Esterházy, "das ist wirklich das Hauptwort einer Diktatur. (...) Alles, was wir gemacht haben, auch wenn wir tapfer waren, das ernährte sich aus Angst. Und ich habe diese Angst auch an meinen Eltern gesehen. (...) Bei diesem Spiel, bei diesem Schreiben, da wollte ich ein leichteres, ein wenig leichteres Leben für meine Mutter herausdenken."

So ist in "Keine Kunst" der Fußballplatz das Offene - allerdings das vermeintlich Offene der Freiheit vor der Angst. Das ist nicht leicht zu verstehen. Und Ferenc Puskás, der größte ungarische Fußballspieler aller Zeiten, sagt einmal zu Esterházys Mutter:

"Das ist mir zu hoch, Lilike, aber eines ist sicher, dass nämlich auch der Herrgott ein Spieler ist."

"Das nicht Machbare ist in der Literatur machbar"

Der Herrgott und seine Engel kommen in "Keine Kunst" öfters vor. Ebenso der Autor Péter Esterházy, der sich als Kind, als Jugendlicher, als Mann - als Sohn seiner Mutter vorstellt. Und der Autor erweckt seine tote Mutter im autobiografischen Erzählen zum Leben. Damit hätten allerdings Ferenc Puskás, der Herrgott und Péter Esterházy eines gemeinsam: Sie sind großartige Spieler!?

"Wozu ist Literatur gut? Das nicht Machbare ist in der Literatur machbar", meint Esterházy. "Wenn eine Mutter stirbt kann man sagen: Nein, doch nicht! Fangen wir die Geschichte nochmal an. (...) Und wenn man seine Arbeit gut gemacht hat, dann interessiert es den Leser nicht, ob das Fiktion oder Nicht-Fiktion ist, weil nichts ist Fiktion, weil eben im Roman alles Wahrheit ist."

Länger als 90 Minuten

Péter Esterházy beherrscht meisterlich das Spiel mit der Wirklichkeit und der literarischen Fiktion. Er ist aber kein Verzauberer durch Worte, der die Lüge in Kauf nimmt. Am Fußballplatz mag sich die Angst für 90 Minuten in Nichts auflösen. Doch das ist wahrscheinlich keine große Kunst. Denn sie kehrt wieder. Die Angst vor Verfolgung in der Diktatur, die Angst vor dem eigenen Versagen und die Angst vor dem Tod kann niemand bannen.

Allerdings kann man sie durch das Erzählen in der Schwebe halten - für länger als 90 Minuten, auf über 250 Seiten, wie es der Autor in "Keine Kunst" getan hat. Das ist dann große Kunst, weil das fiktionale Textgewebe einen Spiegel zum wirklichen Leben abgibt und zudem der harten Realität ein Schnippchen schlägt. Meist tritt ja das Leben des Autors hinter seinem Werk zurück. So etwas kann Angst machen.

Man neigt zum Beispiel dazu, zu sagen, ein Autor sei gleichbedeutend mit seinen Werken, aber wo bleibt dann sein Leben?, der Herr hebt das Werk hoch wie einen Stein und darunter stieben blind und erschrocken die Käfer hervor, das blasse, erschrockene Leben des Autors, ein Lebensrest, der niemals die Sonne gesehen hat.

Ist das Werk aber eine Autobiografie, dann tritt der Autor als Figur ins Romangeschehen ein, Licht fällt auf ihn und sein Leben. In der autobiografischen Prosa "Keine Kunst" ist Péter Esterházy der Sohn. Und als Autor holt er seine tote Mutter ins Leben zurück und führt sie aufs Fußballfeld. Von dort ruft sie ihn und uns Leser zu sich, ins vermeintlich Offene, für eine bestimmte Zeitstrecke, während der die Angst reine Fiktion ist.

Service

Péter Esterházy, "Keine Kunst", Berlin Verlag