Urbaner Troubadour mit Kultstatus

God Bless Tiny Tim!

Er war eine der bizarrsten Figuren, die die US-Popmusik hervorgebracht hat: Herbert Buckingham Khaury, alias Tiny Tim. Ein urbaner Troubadour und romantischer Clown, der von seinen Fans als Kultfigur verehrt wurde, während andere über ihn lachten.

Tip-Toe Thru' The Tulips With Me

Anfang des 20. Jahrhunderts war in den USA eine Form des Varietétheaters populär, die eine lose, zirkusartige Zusammenstellung von Musik, Tanz und Akrobatik bot und in Anlehnung an das französische Theater des frühen 19. Jahrhunderts "Vaudeville" genannt wurde.

Als diese Art der Unterhaltung mit dem Aufkommen von Tonfilm, Schallplatten und Radio schon im Niedergang begriffen war, schrieben der Komponist Joe Burke und der Textdichter Al Dubin einen der letzten großen Hits, die der Vaudeville-Stil hervorgebracht hat: "Tip-Toe Through The Tulips With Me".

Berühmt wurde der Song in der Aufnahme des Sängers, Gitarristen und Ukulele-Spielers Nick Lucas im Jahr 1929. Zwei Millionen Mal verkaufte sich die Platte und fand sich wohl auch im Haushalt des Ehepaars Khaury, einem katholischen Libanesen und einer jüdischen Polin, die in den Slums von "Washington Heights" in New York ihr ärmliches Dasein fristeten.

Jugendjahre vor dem elterlichen Plattenspieler

Herbert nannten die Khaurys ihren am 12. April 1932 geborenen Sohn, dem sie - ohne es zu ahnen - mit der Anschaffung ihres Grammophons vermutlich die Zukunft gesichert hatten.

Tagelang saß der kleine, eigenbrötlerische Herbert fasziniert vor dem Plattenspieler und saugte die frühen US-amerikanischen Schlager förmlich in sich auf. Nick Lucas war eines seiner Idole.

Urbaner Troubadour

Irgendwann sagte er zu seinen Eltern, dass er jetzt genug Musik gehört hätte, um selbst als Sänger aufzutreten. Er nahm seine kleine Ukulele, stellte sich auf die Straße und spielte den Passanten die Lieder vor, die er in seinem Kopf gespeichert hatte - ein urbaner Troubadour, der seine Zuhörerschaft auch mit einem geradezu enzyklopädischen Wissen über die amerikanische Popmusik seit ihren Anfängen verblüffte.

Er wusste von jedem der (damals in den 1950er Jahren schon ziemlich altmodischen) Songs, wann, wo, von wem und für wen er geschrieben oder aufgenommen worden war.

Kultfigur mit bizarrem Erscheinungsbild

Ein Jahrzehnt lang spielte Khaury auf der Straße. Mit der Zeit scharte sich eine kleine Fangemeinde um ihn, die ihn als schrullige Kultfigur verehrte. Auch seine äußere Erscheinung dürfte dazu beigetragen haben: etwa 1,90m groß, dünne Beine, großer Bauch und großer Hintern, überdimensionale Hakennase, lange, dunkle Locken und ein nicht gerade elegantes Gebiss. Diesen an sich schon recht auffälligen Körper hüllte er in viel zu kleine, bunte Anzüge und puderte sich das Gesicht weiß.

"Page Three" und "The Scene"

Anfang der 1960er Jahre entdeckte Khaury seine hohe Falsett-Stimme, legte sich verschiedene Pseudonyme zu und schaffte es, in einem lesbischen Club namens "Page Three" und anderen Spelunken engagiert zu werden. Einige Zeit später wurde Tiny Tim, wie er sich schließlich nannte, als Opening Act für "The Scene" entdeckt, den hippen Club in Greenwich Village, wo Leute wie Andy Warhol, Bob Dylon und Eric Clapton verkehrten (die beiden letzteren sind übrigens bekennende Tiny Tim Fans).

Der seltsame Sänger wurde zum kultigen Geheimtipp in New York. Immer öfter wurde er nun in diverse Fernsehshows eingeladen und erhielt schließlich 1968 einen Plattenvertrag.

Tip-Toe Thru' The Tulips With Me

"God Bless Tiny Tim!" nannte Khaury sein erstes Album, auf dem er sich in bester Vaudeville-Manier quer durch seine Lieblingsschlager sang. Einer der Songs wurde - zum zweiten Mal nach 40 Jahren - zum Hit: "Tip-Toe Thru' The Tulips With Me". Tiny Tim war endlich der Star, von dem er in seiner Jugend stets geträumt hatte.

Er füllte große Konzerthallen und erhielt stattliche Gagen. Dass seine Popularität zu einem Großteil darauf beruhte, dass man über ihn schmunzeln konnte, schien ihm nichts auszumachen. Er war auf fast naive Weise beseelt von dem Gedanken, andere Menschen zu erfreuen und glücklich zu machen. Die Brutalität des Showbusiness konnte seiner kindlich-unschuldigen Persönlichkeit nichts anhaben.

Drei Alben und eine TV-Hochzeit

Nach dem Erfolg seines Debüt-Albums schickte man sofort ein zweites nach: "Tiny Tims Second Album". 1969 folgte eine Schallplatte für Kinder unter dem Titel "For All My Little Friends".

Seine 1969 live in einer Fernsehshow vollzogene und von 40 Millionen Zusehern verfolgte Hochzeit mit der 17-jährigen "Miss Vicki" sowie 1970 ein Konzert am Isle of Wight Festival vor 600.000 Menschen waren die letzten Höhepunkte seiner Karriere.

Novelty-Act-Schicksal
Tiny Tim erlitt das typische Schicksal eines Novelty Acts. Alle späteren Versuche, ihn mit verschiedensten Musikstilen am Markt zu halten, waren wenig erfolgreich, und in den 70ern, 80ern und 90ern fristete Tiny Tim ein eher trauriges Künstlerdasein mit Auftritten im Zirkus oder in drittklassigen Clubs, oft mit schlechten Begleitmusikern und schwachen Gagen.

Dennoch gibt es auch aus diesen Jahren einige sehr interessante und schöne Aufnahmen von Tiny Tim, deren Existenz vor allem dem Musiker und Produzenten Martin Sharp zu verdanken ist.

Tip-Toe bis zum Tod
Der romantische Musik-Clown Tiny Tim blieb letztlich ein Leben lang an seinen ersten und einzigen Hit "Tip-Toe Thru' The Tulips With Me" von 1968 gefesselt. Es war sein Überlebenslied, und er musste es immer wieder und wieder spielen. Und so war "Tip-Toe" auch das letzte Lied, das er auf dieser Erde sang, als er 1996 in Minneapolis auf der Bühne zusammenbrach und kurz darauf in den Armen seiner dritten Ehefrau, "Miss Sue", verstarb. Seine kleine Ukulele wurde Tiny Tim mit ins Grab gegeben. God bless him!