Übertragungsliebe

Sigmund Freud und der Pop

Das Material der Pop- und Rockmusik sind Emotionen, Sehnsüchte, Verletzungen, Heilung. Schon daraus ergibt sich ein Nahe- ja, sogar Konkurrenzverhältnis zwischen Psychoanalyse und Pop, so der Freud- und Popforscher Klaus Theweleit.

There is only one thing you wanna avoid
Get addicted to steroids
But stay the bloody hell away from
Sigmund Freud.

Craylark, "Freud Rap" (2008)

Father?
Yes, son?
I want to kill you
Mother, I want to …

Jim Morrison & The Doors, "The End" (1967)

Die letzten Worte sind unverständlich, hinausgeschrien in den Krach der Hammond-Orgel. Auch so besteht kein Zweifel, was gesagt wird: Freuds Ödipus-Theorie, mit aller Expressivität auf den (Siede-) Punkt gebracht durch den zweiundzwanzigjährigen Morrison. Die Rockmusik der 1960er Jahre als Medium, als Bühne für Elemente der Psychoanalyse. Wie ihrem Begründer das gefallen hätte?

Freuds Verhältnis zur Musik

Sigmund Freud und Pop. Der Königsweg, um beide zu verbinden, ist nicht gangbar: Der Begründer der Psychoanalyse hatte zu Musik ein distanziertes Verhältnis. Einige Opern besuchte er, wie gegen die Jahrhundertwende in Wien üblich, aber Literatur und bildende Kunst lagen ihm näher. Der Film, in dem Freuds Werk mächtige Wirkung entfaltet, fand sich in seinen Schriften kaum erwähnt, ebenso wenig wie Musik und schon gar nicht die Schlager seiner Zeit.

Umgekehrt sehr wohl. Auch wenn es satirische Darstellungen sind: Vor allem in den USA wird der "Shrink", der Seelenklempner, zum fixen Inventar der Unterhaltungskunst - verstärkt durch die Vertreibung der Psychoanalyse aus dem deutschsprachigen Europa ab 1933. Schon damals spotten die Gershwin-Brüder schon über "Freud and Jung and Adler":

Doctors Adler: It's father love!
Doctors Jung: It's mother love!
Doctors Freud: We're sure it isn't love at all!

Doctors Adler: He's oversexed!
Doctors Jung: He's undersexed!
Doctors Freud: He hasn't any sex at all!

Nurses: You must know that when a Doctor's from Vienna - That pays twice as well!

George und Ira Gershwin im Musical "Pardon My English" (1933)

Kampf der Schulen

Aus dem Vorherrschaftskampf der tiefenpsychologischen Schulen geht Freud siegreich hervor - jedenfalls in der Popmusik. Vermutlich findet sich kein anderer Arzt so häufig in Songs erwähnt, vielleicht (neben Einstein?) überhaupt kein Wissenschaftler: bei Leonard Cohen und den Kinks, bei Guns N' Roses und Alanis Morissette, bei ABBA, Harry Belafonte, Anna Russell, Tom Lehrer ... bis hin zu Blood, Sweat and Tears.

"Sigmund Freud, analyze this", fordert Madonna heraus. Oder ist es eine Bitte? Freud, angerufen wie ein Heiliger im Volksglauben, zuständig für das Unverständliche, Unheimliche, Unbewusste.

Gitarre als phallisches Symbol?

Natürlich lässt sich, wie alles Menschliche, auch Pop mit psychoanalytischem Instrumentarium sezieren. Vulgäranalytisch (aber deshalb ganz falsch?): die E-Gitarre als phallisches Symbol. Oder (Widerspruch oder typischer Fall von "Überdeterminiertheit?") als Objekt der Übertragung: Als "Frauen" ("ladies") der Gitarristen, geküsst, geschlagen, erotische Verhältnisse mit allen Tiefen (und Perversionen)...

Pop, die große Übertragungsliebe. Buchstäblich, denn Musikmachen, Musikhören lassen das Gehirn Opiate ausschütten. Musikhören ist nicht nur metaphorisch ein Rauschzustand, schreibt Klaus Theweleit, Fachmann auf beiden Gebieten: Pop und Psychoanalyse.

Behandlungszimmer wird zur Bühne

Musik als Heilung, als "cure"? Die Spannung zwischen den zwei Feldern entsteht (auch) durch ihre Gemeinsamkeiten. Theweleit: "An die Stelle medizinischer Verfahren tritt in der Erfindung der Psychoanalyse im Zuge der Traumdeutung tatsächlich die Literatur; das Behandlungszimmer wird zur Bühne von Inszenierungen; in diesen stellt der Patient sich vor, sich aus, probiert sich wie auf einer Probe, darf alles sagen und probieren, weil es Theater-, Proben-Freiraum ist."

Lässt sich dasselbe nicht auch über Popmusik sagen? Autoren-Sänger wie Lou Reed, Nick Cave in seinen "Murder Ballads", sie dringen tief in die Fantasien und emotionalen Abgründe ihrer Erzählfiguren ein. Jim Morrison machte übrigens, neben Musik, tatsächlich Theater, unter anderem in Sophokles' "Ödipus Rex".

Wunsch nach wilderem Leben

Beispiele für ein allgemeineres Prinzip: In Pop-Songs liegen alle Abweichungen, Übertretungen, Perversionen offen zu Tage, schreibt Klaus Theweleit. Kein Wunsch, der in ihnen nicht Gestalt angenommen hätte. "Von Anfang an befindet sich die Psychoanalyse in einer Idealkonkurrenz mit den Künsten um die neuen Personen- und Welt­Entwürfe, vor allem aber mit den Pop-Künsten. Dass die Musik ihr größter Konkurrent eben darin werden würde, konnte weder Freud ahnen, noch haben heutige Analytiker dies voll begriffen. (...) Psychoanalyse und Pop sind Spielformen des ständigen Anlaufs auf ein neues (wilderes) Leben."

Hör-Tipp
Spielräume - Nachtausgabe, Freitag, 24. April 2009, 22:30 Uhr

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