Per Olov Enquist als Romanfigur
Ein anderes Leben
Per Olov Enquists neues Buch, ist nicht Fiktion und nicht Autobiografie im eigentlichen Sinn, vielmehr ein fragmentarischer Rückblick auf fünf Jahrzehnte, auf wichtige Erlebnisse und Episoden, die "Schmerzpunkte" einer Existenz.
8. April 2017, 21:58
"Wenn man den Schmerz fortwirft, war er vergebens. Dann hat er nur wehgetan", heißt es in Per Olov Enquists Roman "Kapitän Nemos Bibliothek". Es ist die Geschichte zweier vertauschter Kinder, die als Freunde und Nachbarn aufwachsen und, als der Irrtum entdeckt wird, ihr bisheriges Leben annulliert, ihre Identität in Frage gestellt sehen.
"'Kapitän Nemos Bibliothek' hat mein Leben gerettet. Punkt", bekennt Enquist heute. Nicht von ungefähr beginnt und endet Enquists Lebensbeschreibung "Ein anderes Leben" mit "Kapitän Nemos Bibliothek": "Kapitän Nemo" war Enquists Rettung als Mensch und Wiedergeburt als Schriftsteller, das Ende der Schreibkrise - und der Sieg über die Alkoholsucht.
Es war ein Buch über die Auferstehung. Es sollte das Letzte in seinem alten Leben und das Erste in dem anderen Leben, das ihm jetzt geschenkt wurde, verbinden.
"Es fängt an in meiner Jugend und hat einen Schluss im Februar '90", erklärt Enquist im Gespräch. "Man könnte natürlich eine Biografie schreiben, ein Memoirenwerk mit Leuten, die man getroffen hat, Leuten, die man hasst oder liebt, Freunde und Frauen und so weiter, aber das ist nichts für mich."
Kindheit im Zeichen strenger Religiosität
Ein Buch über die "Auferstehung" ist auch "Ein anderes Leben". Es verknüpft einzelne Abschnitte von Enquists Biografie und zentrale Motive seiner stets am Biografischen interessierten Literatur, wiederholt Schlüsselworte, versteckt Selbstzitate. Von Angst, Scham und Verlassenheit ist die Rede, von der "Heiterkeit seiner Verzweiflung" und der "Deutlichkeit der Hölle", von Schuld und Sünde, von Reinheit und Rettung.
Eine Kindheit im Zeichen strenger Religiosität, verkörpert vor allem durch die alleinerziehende Mutter, das schildert das erste Kapitel. Geboren in Hjoggböle, einem 150-Seelen-Dorf 1.000 Kilometer nördlich von Stockholm, erlebt Enquist einen protestantischen Rigorismus schwedisch-pietistischer Prägung. Tanz, Theater, Kino, Sport am Sonntag: alles verboten. Die Urgroßmutter verliert sechs ihrer Kinder, wird verrückt und ritzt mit einem Nagel Worte in die Wand, der ältere Bruder kommt tot zur Welt, der Vater stirbt ein halbes Jahr nach seiner Geburt. Der junge Per-Olov führt einen imaginären Dialog mit dem Toten, zeichnet leidenschaftlich Landkarten, entdeckt die Welt der Bücher, den Sport. "Wenn alle anderen Wärme und Geborgenheit fanden, fand er nur Schuld und Ratlosigkeit", schreibt Enquist über Enquist.
"Am Anfang habe ich versucht, das in Ich-Form zu schreiben", so Enquist, "aber mit der dritten Person konnte man viel mehr ehrlich sein. Es war eine Romanfigur, die ich betrachtete, und dieser Mann, diese Romanfigur, heißt Per Olov Enquist offenbar, und er hat alles erlebt, was ich erlebt habe."
Die "soziale Katastrophe"
Der Mittelteil handelt vom Studium und frühen literarischen Erfolgen, von der Karriere als Kritiker und dem Engagement als linkem Intellektuellen, von Versuchen mit experimenteller Literatur und Ärger mit medienkritischen Stücken. Die Freundschaft mit Lars Gustafsson wird geschildert, die Begegnung mit Olof Palme, eine Nahaufnahme von Ulrike Meinhof, die Reportererlebnisse bei der Olympiade in München und der Flop des Theaterautors am Broadway. Stationen in Uppsala, Stockholm, Berlin und Los Angeles.
Mit dem Jahr 1978 schließlich beginnt das Schlussdrittel, der Untergang, die "soziale Katastrophe". Enquist zieht mit seiner zweiten Frau nach Kopenhagen, ins dänische Exil. Er bleibt erfolgreich als Dramatiker, als Prosaautor gelingt ihm nur noch die Liebesgeschichte "Gestürzter Engel". Schreibkrise, Einsamkeit, Depressionen, Alkohol. "Er sank", heißt es an einer Stelle, "er befindet sich im freien Fall", an einer anderen. Eine Existenz am Tiefpunkt, am Rande des Selbstmords. Aus einem isländischen Krankenhaus flieht der auf Entzug Gesetzte nachts im Winter und in Socken.
"Das war ein Leben. Und dieses Leben hat einen Schluss, den 6. Februar 1990", erinnert sich Enquist. "Seitdem lebe ich ein Luxusleben, ein anderes Leben, ein interessantes Leben, viel ruhiger... Aber das erste Leben bis Februar 1990, das ist so besonders und so voll von Rätseln, dass das ein anderes Leben ist."
Die Wende
Früher träumte ich insgeheim davon, ich könnte einmal alles zusammenfügen, einen Schlussstrich ziehen unter alles. Um am Ende sagen zu können: so war es, so ging es, dies ist die ganze Geschichte. Doch das wäre wider besseres Wissen. Wider besseres Wissen ist andererseits eine gute Art, nicht aufzugeben. Wüssten wir es besser, gäben wir auf.
Das schreibt Per Olov Enquist am Beginn seines Buches - ein Zitat aus "Kapitän Nemos Bibliothek", dem Buch, das er im Februar 1990 zu schreiben begann und die Wende markiert.
"Ich bin seit 19 Jahren völlig ohne Alkohol, und ich habe immer gedacht, niemals in meinem Leben werde ich ein Wort über das schreiben", sagt Enquist. "Aber dann habe ich plötzlich das Buch angefangen mit der Kindheit. Und so war es nicht so schwer. (...) Es waren neue und alte Erinnerungen, eine Kombination von etwas, das sehr finster und sehr glücklich war. Am Ende war es doch ungefähr wie ein Roman zu erleben."
Momente eines Lebens
"Wenn man den Schmerz fortwirft, dann war er vergebens... Dann war man nur ein ganz sinnloser Mensch", weiß der Erzähler in "Kapitän Nemos Bibliothek". Enquist hat den Schmerz, den "Schmutz des Lebens", die Zäsuren, Irrtümer und Versäumnisse nicht weggeworfen und vergessen, er hat sie schreibend zu verstehen versucht. "Ein anderes Leben" ist der Versuch, nicht Bilanz zu ziehen, sondern Momente eines Lebens zu erhellen, die Rätsel einer Existenz zu fassen, die Verbindung einer Biografie mit dem, was Enquist die "Tiefenströmungen der Zeit" nennt, aufzuspüren. Was dabei herausgekommen ist, ist ein uneitles, ein beeindruckendes und berührendes Buch. "Ein anderes Leben" von Per Olov Enquist: ein meisterliches Werk europäischer Erinnerungsliteratur.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Buch-Tipp
Per Olov Enquist, "Ein anderes Leben", aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt, Hanser Verlag
Link
Hanser - Ein anderes Leben