Kein Einzelfall

Die Geschichte von Abu Ghraib

Die Fotos von Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib erschütterten die Weltöffentlichkeit. Kann das, was dort geschehen ist, als Einzel- oder Ausnahmefall gesehen werden? Dieser Frage sind Philip Gourevitch und Errol Morris nachgegangen.

Im Sommer des Vorjahres brachte der amerikanische Dokumentarfilmer Errol Morris seinen Film "Standard Operating Procedure" in die Kinos. Der Film hat die bekannten Bilder aus Abu Ghraib zum Thema und er lässt die Personen zu Wort kommen, die diese Bilder gemacht haben und die auf diesen Bildern zu sehen sind. Fast zwei Stunden lang erläutern sie in der Doku, in welchen Zusammenhängen und in welcher konkreten Situation die Fotos jeweils entstanden sind.

Unter ihnen befindet sich auch Lynndie England, die auf einem besonders berühmten und berüchtigten Foto zu sehen ist, wie sie einen nackt am Boden liegenden Gefangenen an einer Leine hält.

Interviewmaterial als Ausgangspunkt

Hunderte Stunden Interviewmaterial hat Errol Morris für seine Dokumentation gedreht; der Autor Philip Gourevitch, der mit einem preisgekrönten Buch über den Völkermord in Ruanda bekannt geworden ist, hat in der Folge das Interviewmaterial als Ausgangspunkt benutzt, um die inkriminierten Fotos in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.

Im Buch selbst findet sich bewusst kein einziges der Fotos aus Abu Ghraib - zum einen, weil man sie als bekannt voraussetzen kann, zum anderen und vor allem aber, weil die Autoren damit deutlich machen wollen, dass es ihnen um die Hintergründe und die Vorgeschichte dieser Fotos geht.

Das berüchtigste Gefängnis im Irak

Zu dieser Vorgeschichte gehört auch die Vorgeschichte von Abu Ghraib selbst. Das Gefängnis war unter Saddam Hussein das größte und berüchtigste Gefängnis im Irak gewesen. Es ist bezeichnend, dass die amerikanischen Spezialisten, die sich nach der Eroberung Bagdads für eine Weiterführung des unweit der Hauptstadt gelegenen Gefängnisses entschieden, nichts davon wussten und dass Berichte über Abu Ghraib wie der folgende erst sehr spät zu ihnen durchdrangen.

In einige Zellen habe man so viele gepfercht, dass die eine Hälfte stehen musste, während die andere schlief; Wärter hätten Schutzgelder von Insassen und deren Angehörigen erpresst; ab und zu sei Saddams Sohn Qusay, der Chef der Geheimpolizei, vorbeigekommen, um tausend Hinrichtungen anzuordnen, einfach weil ihm danach zumute war; man habe Insassen auf den Boden genietet oder an Dachsparren aufgehängt und solange mit Elektroschocks malträtiert oder geschlagen, bis sie sich nur noch zu sterben wünschten.

Genfer Konvention weitestgehend außer Kraft gesetzt

Aus pragmatischen Überlegungen entschied man sich dennoch für eine Weiterführung des Mitte der 1960er Jahre nach amerikanischen Bauplänen errichteten Gefängnisses in Abu Ghraib - ein neues zu bauen hätte nämlich Jahre gedauert. Allerdings wollten die amerikanischen Militärbehörden aus Saddams Schreckenskerker das Musterbeispiel einer vorbildlich und human geführten Haftanstalt machen. Dass es dazu nicht kam, hat mit einer anderen Vorgeschichte zu tun, die unmittelbar nach dem 11. September 2001 begann.

Im Zuge des "Kriegs gegen den Terror" wurden dabei von Top-Juristen im Weißen Haus und im Pentagon die Bestimmungen der Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen weitestgehend außer Kraft gesetzt. Damit wurde den US-Geheimdiensten innerhalb und außerhalb des Militärs nicht nur die Anwendung folterähnlicher Praktiken erlaubt, auch bis hinunter zur untersten Befehlsebene wurden sogenannte "Standarddienstanweisungen" - auf Englisch: "Standard Operating Procedures" - ausgegeben, die auch einfache Soldaten zu einem rauen Umgang mit Gefangenen aufforderten.

Angst, Frust und Langeweile

Auch an die amerikanischen Militärpolizisten und Wächter in Abu Ghraib ergingen solche "Standarddienstanweisungen". Sie wurden von ihren Vorgesetzten ermuntert, ja angehalten, Häftlinge vor Verhören zu demütigen und sie psychisch und physisch unter Druck zu setzen, um sie auf diese Weise gezielt mürbe zu machen und ihren Willen zu brechen.

Diese Militärpolizisten und Wächter waren durch ihre Kriegserfahrungen bereits verroht; hinzu kamen die Allgegenwart von Alkohol und harter Pornografie und der Umstand, dass sie sich selbst in einer "Stressposition" befanden - Abu Ghraib wurde laufend von außen mit Mörsergranaten beschossen und auch im Inneren des Gefängnisses drohte ständig Gefahr durch Häftlingsrevolten und durch irakische Wächter, die sich bestechen und Gefangene wieder laufen ließen, oder die ihnen Waffen in die Gefängniszelle schmuggelten.

Angst, Frust und Langeweile der amerikanischen Militärpolizisten in Abu Ghraib entluden sich in den bekannten bizarren Inszenierungen, bei denen sich die Soldaten einen Spaß daraus machten, die von ihnen bewachten Häftlinge zu demütigen, zu misshandeln und dabei auch zu fotografieren.

Die Aussage des amerikanischen Generals in der TV-Sendung "60 Minutes" - die die Fotos Ende April 2004 erstmals publik machte -, dass es sich bei den fotografisch dokumentierten Demütigungen und Misshandlungen bloß um bedauerliche Einzelfälle handeln würde, ist falsch. Lynndie England und Co. agierten in einem Klima und unter dem Eindruck von Vorschriften, die zu einem brutalen Umgang mit Gefangenen regelrecht ermunterten.

Von Fotos bloßgestellt

Erschreckend im Fall von Abu Ghraib ist, dass ein großer Teil der dort einsitzenden Gefangenen willkürlich und völlig grundlos verhaftet worden war. Diese Häftlinge wussten nicht, wo sich Saddam Hussein versteckt hielt und sie hatten auch nichts mit dem militärischen Widerstand gegen die Amerikaner zu tun. Wenig verwunderlich, brachten die harten und folterähnlichen Verhöre, denen man sie unterzog, in nahezu keinem Fall verwertbare Ergebnisse.

Diese himmelschreiende Inkompetenz, mit der die Amerikaner in Abu Ghraib im Besonderen, aber auch ganz allgemein im Irak zu Werke gingen, hat für Philip Gourevitch und Errol Morris einen sinnbildhaften Ausdruck in den Fotos aus Abu Ghraib gefunden. Gegen Ende ihres Buches schlussfolgern die beiden Autoren:

Insofern prägte das Stümperhafte nicht bloß den formalen Aufbau der Bilder von Abu Ghraib, sondern floss auch in ihre Motive ein, in das darauf Abgebildete, und entsprach einem Aspekt des Irak-Kriegs, der fast alle beunruhigte und tief verstörte: die rücksichtlos unbekümmerte Tollpatschigkeit, mit der man ihn betrieb. Es war ein Stümperkrieg, ebenso rabenschwarz wie unüberlegt, bei dem noch nicht einmal einleuchtete, wieso man ihn überhaupt führte. (...) Ausgegeben als ein Krieg der Ideen und Ideale, entpuppte er sich als ein solcher der Posen und des Posierens. Dabei ging es um unser Selbstbild gegenüber unserem Feindbild, und nach diesem Maßstab konnten wir leicht erschreckend tief sinken, bis man uns ertappte. Die Bilder von Abu Ghraib haben uns bloßgestellt. So viel erkannte man auf den ersten Blick.

Gourevitch und Morris weisen in ihrem Buch allerdings auch darauf hin, dass besagte Fotos Missstände sowohl sichtbar gemacht als auch zugedeckt haben. Die Fokussierung der Öffentlichkeit auf die publizierten Fotos führte dazu, dass man die darauf sichtbaren Kleinen verurteilte, während man die Großen, die diese Missstände überhaupt erst möglich gemacht hatten, laufen ließ. Das Surreale und Clowneske der Fotos verdeckte zudem, dass in Abu Ghraib auch Folterungen durch diverse US-Geheimdienste stattfanden, bei denen Menschen zu Tode kamen. Es sind Todesfälle, die nie aufgeklärt und nie geahndet wurden.

"Nur in Stressposition"

Und noch auf einen weiteren - kaum bekannten - Umstand weisen Philip Gourevitch und Errol Morris in ihrem Buch hin, nämlich darauf, dass etliche der Fotos, die in der Öffentlichkeit für so große Empörung gesorgt haben, von Militär und Justiz letztlich als unbedenklich eingestuft wurden. Dazu gehört auch das ikonische Bild des irakischen Häftlings, der mit Kapuze über dem Kopf, ausgestreckten Armen und Drähten an den Fingern wie ein Gekreuzigter auf einer Schachtel steht - in der irrigen Annahme, beim Herunterfallen von seinem Podest auf den nassen Boden einen tödlichen Stromschlag versetzt zu bekommen. Der amerikanische Chefermittler in Sachen Abu Ghraib stellte dazu nur lakonisch fest:

"Bei dem Mann, der mit Drähten an den Fingern auf der Kiste steht, sehe ich nur, dass man ihn in eine Stressposition gebracht hat. Ich schaue mir das Bild an und denke, dass sieht nicht aus wie richtige Stromkabel: 'Standarddienstanweisung' - mehr ist das nicht.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Philip Gourevitch, Errol Morris, "Die Geschichte von Abu Ghraib", aus dem Englischen übersetzt von Hans Günter Holl, Carl Hanser Verlag

DVD-Tipp
Errol Morris, "Standard Operating Procedure", Original mit deutschen Untertiteln, Sony