Nicht das Gelobte Land
Wien - Mauritius, One Way
Zwei Kinder schließen Freundschaft. Mit beiden meinte es das Schicksal nicht gut: Raj gehört zu den Ärmsten auf Mauritius, und David lebt in einem Internierungslager. Nathacha Appanah lässt die 1940er Jahre ihrer Heimat Mauritius lebendig werden.
8. April 2017, 21:58
Wien - Mauritius, One Way
Zunächst war da die Idee, in einem Roman Brüderlichkeit und Freundschaft in den Mittelpunkt zu stellen, erzählte Nathacha Appanah in einem Interview. Dann kam der Hinweis eines Freundes, der ihr von einem jüdischen Friedhof auf Mauritius erzählte. Vielleicht waren es die Gräber der Kinder, der zehnjährigen Ruth Gross aus Wien, des vierjährigen Itzak Ripinsky aus Danzig, des neunjährigen Polen Jacob Sventalski oder des ebenfalls neun Jahre alten Benno Wrona aus Kikoll, die in ihrer Fantasie die beiden Kinder David und Raj entstehen ließen, darüber spricht sie nicht. Nur darüber, dass ihr Einstieg in die Geschichte nicht leicht war: "Für 'Der letzte Bruder' habe ich ganze vier Monate gebraucht, und drei verschiedene Versionen der ersten vier Kapitel angefertigt, bis ich mit der Tonlage und dem Erzählrhythmus endgültig zufrieden war."
Und so beginnt der Roman mit Raj als altem Mann, der von seinem Kinderfreund geträumt hat und sich zu Davids Grab bringen lässt. Denn nach so vielen Jahren erst hatte er durch einen Zeitungsartikel erfahren, warum der kleine David und die anderen im Lager von Beau-Bassin waren.
Flucht aus Wien
Diese traurige Geschichte beginnt in Europa, in Wien, wo im September 1940 eine große Zahl von Menschen unter Bewachung der Gestapo auf die "Schönbrunn" verladen wurden. Josef Rosenheim erzählt von dieser Reise, die eigentlich ins Gelobte Land hätte gehen sollen. Dass im rumänischen Hafen Tulcea noch andere "Reisende" warteten, dass 1.581 Menschen nach gut drei Monaten vor Haifa ankamen, dass die Engländer die Flüchtlinge nicht an Land kommen ließen, sondern sie auf zwei holländische Schiffe verbrachten, die dann am 9. Dezember 1940 in Saint Louis auf Mauritius ankamen.
Zehn Kilometer weiter im Landesinneren, im Lager von Beau Bassin, lebten die Flüchtlinge viereinhalb Jahre in Not und Elend, wobei Familien und Ehepaaren nicht gestatten wurde, beieinander zu bleiben. Erst am 25. August 1945 war die Qual zu Ende, die überlebenden Lagerinsassen wurden von den britischen Behörden entlassen und auf ein Schiff mit dem Ziel Haifa gebracht.
Glück und Verzweiflung
Josef Rosenheim entkam den ganz und gar nicht paradiesischen Verhältnissen, weil er sich 1942 gemeldet hatte, um in einem in England entstandenen österreichischen Pionierkorps zu kämpfen - was er dann, endlich in England angekommen, doch nicht durfte. Andere starben durch Krankheit oder an Entkräftung oder an Verzweiflung, wie zum Beispiel der Karikaturist, Zeichner und Marionettenspieler Fritz Haendel: Er erhängte sich am 7. Januar 1945. Er wurde, wie die anderen Toten, auf dem nahe gelegenen Friedhof St. Martin begraben. Haendel und sein Freund Peretz Béda Mayer, ein Maler, haben über die Flucht Tagebuch geführt. Ihre künstlerischen Arbeiten konnte man letzten Sommer in Wien sehen.
Die Malerin Anna Frank-Klein hatte offenbar Glück gehabt, sie durfte 1941 etwa ein Jahr an einer Schule Zeichenunterricht geben. Zu ihren Schülerinnen gehörte Geneviève Pitot, die viele Jahre später im Jüdischen Museum in Berlin Zeichnungen ihrer ehemaligen Lehrerin entdeckt hatte. ein Erlebnis, das sie dazu anregte, mehr über die Flüchtlinge auf Mauritius zu erfahren. Sie begann mit systematischen Nachforschungen und konnte viele Überlebende befragen, deren Geschichte sie in dem Buch "Der Mauritius-Schekel" veröffentlichte.
Gestrandet auf Mauritius
Auch der Journalist Ronald Friedmann hat sich mit der "demokratischen" Deportation beschäftigt und ein Buch über das Schicksal der auf Mauritius Gestrandeten veröffentlicht. Den Anstoß dazu gab sein Großvater, von dem in der Familie immer erzählt wurde, er wäre auf Mauritius gestorben. "Eines Tages", meinte Ronald Friedman, "wollte ich genau wissen, was passiert ist, und begab mich auf die Suche, und so entstand das Buch."
Um den Friedhof auf Mauritius kümmert sich mittlerweile der Freundeskreis "Amicale Maurice-Israel", und es gibt auch das Projekt, diesen und andere historisch bedeutsame Friedhöfe auf Mauritius auf einer Internetseite darzustellen.
Nathacha Appanah, die für den Roman "Der letzte Bruder" mit drei französischen Publikumspreisen ausgezeichnet wurde, möchte, wie sie im schon erwähnten Interview sagt, mit diesem Buch "der universellen Hoffnungslosigkeit entgegenwirken und den sinnstiftenden Wert von Freundschaft und Brüderlichkeit vermitteln."
Service
Buch-Tipps
Nathacha Appanah, "Der letzte Bruder", Knaus 2009
Geneviève Pitot, "Der Mauritius-Schekel. Geschichte der jüdischen Häftlinge auf der Insel Mauritius 1940-1945", Hentrich & Hentrich
Ronald Friedmann, "Exil auf Mauritius 1940-1945. Das Schicksal emigrierter Juden. Report einer 'demokratischen' Deportation", edition ost
Links
Random House - Interview mit Nathacha Appanah
Ronald Friedmann - Der jüdische Friedhof von Mauritius
Letter to the Stars - Josef Rosenheim über Mauritius
Deutsche Nationalbibliothek - Genevieve Pitot: Der Mauritius-Schekel