Elfter Lyrikband von Hans Magnus Enzensberger

Rebus

Schon sein erster Gedichtband erregte großes Aufsehen. Der 1957 erschienene Band machte den damals 28-Jährigen schlagartig bekannt. Heuer ist der insgesamt elfte Lyrikband des Dichters erschienen: "Rebus". Am 11. November 2009 feiert er seinen 80. Geburtstag.

Das längste Gedicht steht am Ende. "Coda" nennt Hans Magnus Enzensberger diesen zehnseitigen Text, der seinen neuen Gedichtband beschließt. Er handelt von Wut, Glück und Hohn, vom schlechten Gedächtnis und vom Gewissen, das "eine schöne Erfindung der Juden" ist, von "eiserner Gutmütigkeit" und vom Kampf, der weitergeht, von den "tristen Verlierern" und den "noch viel tristeren Siegern", von allem, was möglich wäre, und allem Möglichen, das unmöglich ist.

"Ich bin nur ein Vorübergehender, / der vorübergehend beobachtet, was der Fall ist", bilanziert das lyrische Ich, ein Vorübergehender, "der nur redet (...) / und der kaum etwas ausrichtet." Und in Klammern dazwischengeschoben die lateinische Sentenz "de rebus quae geruntur" - "von Sachen, die sich ereignen". "Rebus" - so ist denn auch der Titel dieses Bandes, mit Gedichten der Rückschau, der Selbstbetrachtung, der erinnerten Ereignisse.

"Dieses Rebus, viele Leute kennen das gar nicht mehr, das ist ein Buchstaben- und Bilderspiel", erklärt Enzensberger. "Dem entspricht das Schreiben auf der einen Seite, die Metaphorik auf der anderen."

Selbstironische Betrachtungen

"Rebus" versammelt knappe, lapidare, selbstironische Betrachtungen des bald 80-jährigen Dichters, der sich hier keineswegs in Altersmilde und aphoristischen Lebensweisheiten gefällt - wenn er auch gelegentlich ins leicht Kokette driftet: "Jeder von uns hinterließ der Nachwelt / ein paar alte Rechnungen und eine Zahnbürste" heißt es in dem resümierenden Gedicht "Envoi".

"Rebus", das sind kurze, saloppe, spielerisch-leichtflüssige Gedichte des Übergangs und des Vorübergehens, der Reminiszenzen und Reflexionen, die keineswegs nur dem Rätsel der Sprache gewidmet sind, dem Bildhaft-Uneindeutigen des dichterischen Ausdrucks, sondern auch dem Rätsel der Existenz, dem Rätsel der Erkenntnis. Ob wir "jemals begreifen werden, / wer oder was mit uns würfelt", wird in einem Gedicht gefragt. Es trägt den Titel "Unwahrscheinlich".

Keine Melancholie des Alters

"Rebus" präsentiert Altersgedichte - ohne Alterslarmoyanz. Von Herzbeschwerden ist die Rede, von "gastritischer Krise", von Medikamenten, vom Dichter, der schon wieder die Brille verloren hat. "Die meisten von uns waren beschäftigt mir ihren Bandscheiben oder sie hatten ihre Geheimzahl vergessen", heißt es in einem Gedicht. Doch von Bitterkeit, Verzweiflung oder Melancholie keine Spur. "Glück gehabt", wird konstatiert. "Es hätte schlimmer kommen können."

"Mag ja auch daran liegen, dass man Leute kennt, denen es schlechter geht als einem selbst", meint Enzensberger. "Das ist auch ein Stück Empathie."

Im Rückblick relativieren sich die Leistungen, wächst auch die Skepsis gegenüber jenen, die geistige Führerschaft beanspruchen. In dem Gedicht mit dem Titel "Angewohnheiten" werden "unseren Werken" und "unseren Meinungen" Tätigkeiten wie "Kochen, Waschen, Treppensteigen" gegenübergestellt - unscheinbaren Wiederholungen, die, wie es heißt, "friedlich sind, gewöhnlich / und unentbehrlicher als jedes chef d'oeuvre". In einem anderen wird das Verblasene eines Philosophen, das Hochtönende eines Dichters, das Apodiktische eines Politikers gekontert durch die trockenen Einlassungen einer Tante Cäcilie.

"Jeder Mensch hat ja wahrscheinlich auch eine Tante und eine Großmutter", so Enzensberger. "Und diese Sätze von der Großmutter, die sind ja banal, die kennt ja jeder, die reißen einem nicht vom Stuhl. Aber es ist ja meistens etwas dran, an dem, was die Tante sagt. Ich will das eine gar nicht gegen das andere ausspielen. Man braucht ja beides.

Das Rätsel Leben

Enzensberger hat seinen Band in vier Abschnitte eingeteilt. "Gleichgewichtsstörungen" heißt der erste. Von den Jahreszeiten ist hier die Rede und von den vier Elementen, von Aussetzern des Gehirns und körperlichen Insuffizienzen, von der Psyche, "dieser ewigen Nörglerin", und dem "blendenden Schmerz", von Hotelzimmern, Herzflimmern und Erfahrungen des "zu spät", von Missverständnissen und Krächen... Das Leben ist eine Rutschbahn, der Körper eine Baustelle, das Dasein ein Rätsel.

"Es gibt Probleme" ist der Titel des zweiten Abschnitts, der von Sprachenvielfalt und verschwenderischer Schöpfung spricht, von Unglauben und Unglaublichem, von "putzmunteren Versagern" und dem Gewinsel der Ratsuchenden, von der ewigen Wiederkehr der Niederlagen, Peinlichkeiten, Schocks.

Die Einen und die Anderen

"Schwere Koffer" schließlich heißt der dritte Teil - über Scherben, Spuren und Relikte der Vergangenheit: den heruntergekommenen Spielplatz der Jugend, den "schwarzen Schrank meiner Kindheit", die alten Koffer im Hinterhof.

Das "wahre Leben", das woanders stattfindet, das Warten, das Reisen und das Unterwegssein, das Zustandegebrachte und das Hinterlassene: Das sind Themen des letzten und längsten Teils. Aber auch das Problem der Zugehörigkeit, des Ich-selber-Seins, der Einteilung in "die Einen" und "die Anderen". "Erste Person Plural" lautet die Überschrift.

"Dieses Personalpronomen 'Wir' ist ja höchst mehrdeutig", sagt Enzensberger. "Es gibt ein ausschließendes Wir und es gibt ein einschließendes Wir... Wer gehört dazu, und wer gehört nicht dazu? Ob das jetzt um Nationen, Gesellschaftsschichten, Klassen und so weiter geht."

Aktivität des Geistes

"Am liebsten wäre ich ich selber, aber das ist leider unmöglich." Mit dieser Erkenntnis schließt ein in die Gedichte eingestreuter kurzer Prosatext, der "Selbstgespräch eines Verwirrten" heißt, über ein Subjekt zwischen Ich und Wir, zwischen Selbstbestimmung und Vereinnahmung. Replik eines Intellektuellen, der sich vom kämpferischen Linken zum zurückhaltenden Pragmatiker wandelte und sich aus Öffentlichkeit und Politik mehr und mehr herauszuhalten sucht.

"Der Körper altert, das Gehirn wird jünger", heißt es in "Coda", dem Schlusstext von "Rebus". Er verweist auf den Widerspruch zwischen der Hinfälligkeit des Körpers und der Aktivität des Geistes, attestiert dem lyrischen Ich eine Perspektive und Zukunft, besser als die des 17-Jährigen, der "in diesem Moment auf sein nagelneues Motorrad steigt", und räumt ein, dass auch die "alte Wut" nicht völlig verraucht ist. In "Rebus" hat der 80 Jahre junge Autor, der unermüdliche Hans Magnus Enzensberger, nachgedacht über das eigene Leben und Denken und Dichten, über die Sachen, die sich ereigneten: unsentimental und ohne eitle Nabelschau, in hellen, unangestrengt klingenden Texten voller Hintersinn und Witz.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 17. Mai 2009, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Hans Magnus Enzensberger, "Rebus. Gedichte", Suhrkamp Verlag

Link
Suhrkamp - Hans Magnus Enzensberger