Brisante Vergleiche
Der Fall Dreyfus
Louis Begleys neues Buch beinhaltet politischen Sprengstoff: Begley zieht Parallelen zwischen dem antisemitischen Skandalprozess gegen den französischen Offizier Alfred Dreyfus und der Behandlung terrorverdächtiger Muslime durch die Bush-Regierung.
8. April 2017, 21:58
Im Juli 1894 fand Marie Bastian, Putzfrau an der deutschen Botschaft in Paris, im Papierkorb des deutschen Militär-Attachés ein brisantes Dokument. Der Attaché hatte sich auf dunklen Wegen geheimes Material aus dem Pariser Generalstab besorgt, unter anderem über ein von den Franzosen entwickeltes 120-Millimetergeschütz und über geheime Pläne zur Invasion Madagaskars.
Pech für die Deutschen: Madame Bastian, die Putzfrau, war Spionin des französischen Geheimdiensts. Anstatt das Dokument zu verbrennen, wie sie es auf Anweisung ihrer deutschen Dienstherrn hätte tun müssen, lieferte sie es auf schnellstem Wege bei ihrem eigentlichen Dienstgeber ab, dem französischen Nachrichtenbüro.
Das "perfekte Opfer"
Im Pariser Generalstab brach Panik aus: Wer war der Spion, wer war der Verräter in den eigenen Reihen, das war die große Frage. Sofort fiel der Verdacht auf den einzigen jüdischen Offizier im Stab, auf Alfred Dreyfus - auf einen Unschuldigen. Der wahre Verräter Ferdinand Walsin-Esterhazy, ein hochverschuldeter, soziopathischer Aristokrat, blieb die nächsten Jahre über unentdeckt.
Louis Begley hat den berühmten Skandal rund um Alfred Dreyfus neu aufgerollt für sein neues Buch. Der in Harvard ausgebildete Jurist ist dafür in besonderem Maße prädestiniert, hat er doch jahrzehntelang eine renommierte Anwaltspraxis in New York betrieben.
"Dreyfus war das perfekte Opfer, denn er war Jude", so Begley im Gespräch. "In den Augen des französischen Generalstabs - und der bestand so gut wie ausschließlich aus Antisemiten - war Dreyfus kein echter Franzose. Und deshalb konnte er das Ansehen der französischen Armee in ihren Augen nicht in demselben Maße beflecken wie ein 'echter französischer Offizier' es getan hätte, wenn der als Verräter entlarvt worden wäre."
Der einzige Häftling der Teufelsinsel
Louis Begley leuchtet den Fall Dreyfus in seinem Buch noch einmal in all seinen Facetten aus. Der jüdische Artilleriehauptmann wurde aufgrund gefälschter Beweise zu lebenslanger Haft auf der sogenannten "Teufelsinsel" verurteilt. Die Teufelsinsel, eine ehemalige Leprakolonie vor der Küste Französisch-Guayanas, ist eineinhalb Quadratkilometer groß, felsig und extrem wasserarm.
Alfred Dreyfus war der einzige Häftling auf dem Eiland. Er erkrankte sofort nach seiner Ankunft an Malaria und schweren Durchfällen, und er wurde von Zugameisen, Seespinnen und anderem Ungeziefer geplagt in seiner dreieinhalb Meter mal dreieinhalb Meter großen Steinzelle. Dazu kam die vollständige Isolation, betont Louis Begley:
"Die Bedingungen im Gefängnis waren furchtbar. Einzelhaft ist eine schreckliche Strafe, eine der schrecklichsten, die es gibt. Dreyfus hat sie fast fünf Jahre lang ertragen müssen. Die Wärter auf der Teufelsinsel durften nicht mit ihm sprechen, und er nicht mit ihnen. Er war zum Schweigen verurteilt. Der einzige Mensch, mit dem er alle paar Wochen oder Monate einige Worte wechseln durfte, war der Militärarzt, der alle heiligen Zeiten einmal von der benachbarten Ile de Royale herüberkam, um ihn zu behandeln."
Ein "erledigter Mann"
"Sechs Wochen lang wurde Alfred Dreyfus auch mit zwei Fußeisen an sein Bett gefesselt in der Nacht, sodass sich eiternde Wunden an seinen Knöcheln bildeten", erzählt Begley weiter. "Der Doktor, der ihn am Ende seiner Haftzeit untersuchte, meinte: 'Dreyfus ist ein erledigter Mann.'"
Und das war er wohl auch, obwohl er nach seiner Rehabilitierung 1906 noch 30 Jahre lebte. Im Ersten Weltkrieg diente Alfred Dreyfus der französischen Armee unter anderem vor Verdun als loyaler Offizier. Eine radikalere Assimilierung, bis an die Grenzen der Selbstaufgabe, ist eigentlich nicht denkbar.
Illegal interniert
Louis Begley setzt dem Justizopfer Alfred Dreyfus in seinem Buch ein anrührendes Denkmal. Tagespolitische Brisanz gewinnt der Essay vor allem durch die Parallelen zu Abu Ghraib und Guantanamo, die Begley zieht. Guantanamo ist von der Teufelsinsel vielleicht zweieinhalb Flugstunden entfernt. Und dennoch: Die beiden Gefängnis-Exklaven haben mehr miteinander gemein, als auf den ersten Blick scheinen mag.
"Die augenfälligste Parallele ist die, dass man die Häftlinge von Guantanamo ganz ähnlich behandelt wie man Alfred Dreyfus vor mehr als einem Jahrhundert behandelt hat", meint Begley. "Die zweite Parallele besteht darin, dass diese Häftlinge illegal interniert worden sind. Die Regierung Bush hat internationale Verpflichtungen missachtet, und sie hat vor allem auch US-amerikanische Gesetze missachtet, die Folter verbieten."
Verunsicherte Gesellschaften
Die auffälligste Parallele zwischen dem Dreyfus-Skandal und der Terror-Hysterie in den USA nach 9/11 ist allerdings die religiös-kulturelle. Dreyfus wäre nie verurteilt worden, wenn er katholisch und/oder adelig gewesen wäre, betont Begley in seinem Essay, und viele Guantanamo-Häftlinge haben ihre Inhaftierung einzig und allein dem Umstand zu verdanken, dass sie Muslime sind und ihren Bart zum Zeitpunkt ihrer Festnahme vielleicht etwas länger getragen haben als andere.
Beide Justizskandale, betont Louis Begley, sind nur in psychologisch verunsicherten Gesellschaften möglich gewesen. "Der Fall Dreyfus war ein Symptom für die schwierige politische Lage damals in Frankreich", erklärt Begley. "Die französische Armee litt noch immer unter der Demütigung von 1870/71, unter dem Verlust von Elsaß-Lothringen und der beschämenden Niederlage gegen die Deutschen. Das führte zu einem hysterischen Klima in der Armee."
"Auch Guantanamo war nur möglich in einer emotionalen Ausnahmesituation, wie sie nach den Terroranschlägen von 9/11 herrschte", setzt Begley fort. "Die Bush-Regierung wollte die Fehler wieder gutmachen, die sie vor den Terroranschlägen auf das World Trade Center begangen hat. Deshalb war auf Seiten der Regierung die Begierde so groß, sich bei der Verfolgung der Terroristen 'die Handschuhe auszuziehen und sich auf die dunkle Seite zu begeben', wie Vizepräsident Cheney sich einmal ausgedrückt hat."
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Louis Begley, "Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte", Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christa Krüger, Suhrkamp Verlag
Link
Suhrkamp - Der Fall Dreyfus