Joseph Kyselak, Wanderer

Der schreibende Erlebnisbeamte

Gesichert ist, dass in Wien zwischen 1799 und 1831 der kleine Staatsbeamter Joseph Kyselak lebte, der die Schönheiten der Natur schätzte und gerne wanderte. Bekannt wurde er durch seine "Sucht", seinen Namen an allen möglichen Orten anzubringen.

Dass der Wiener Rechnungsbeamte beim Hofkammerarchiv Joseph Kyselak ein biedermeierliches Schrulli gewesen sei, das seine Freizeit damit verbracht hätte, an alle möglichen Orte, Gegenstände, Möbel, Felswände, Ruinen und sonstige Inventarien der Monarchie seinen Namen hinzukritzeln (womöglich mittels eigens angefertigter Schablone und auf englisch, "Kyselak was here" oder so), das steht in den meisten Lexika und natürlich erst recht im Internet, ist aber ein ziemlicher Unsinn.

Dass Joseph Kyselak in ganz jungen Jahren bei der Wiener Choleraepidemie im Herbst 1831 nicht zuletzt dadurch ums Leben gekommen sei, dass er, wider alle Warnungen der Ärzte, kiloweise Rohkost, nämlich Obst, verschlungen habe, steht auch überall und könnte schon eher stimmen - ist aber trotzdem vermutlich Anekdote: Kyselak war - und ist in gewissem Maß bis heute - eine Identifikationsfigur, umso mehr, als die gesicherten Lebensdaten recht spärlich sind.

Anekdoten und Legenden

Schon seine Zeitgenossen waren geneigt, ein Phänomen - irgendwo zwischen liebenswertem Idioten und ärgerlichem Rebellen - in ihm zu sehen, und die Anekdoten- und Geschichterl-Flut nach seinem frühen Tod, von der sich Legenden, Romane und authentische Berichte bis zum heutigen Tag ernähren, erinnert an einen (wenn auch sonst natürlich nicht vergleichbaren) andern Vaganten zwischen den starren Systemen: An Kyselaks Zeitgenossen, den "Räuberhauptmann" Johann Grasl, der ein ganz gewöhnlicher Dieb, Räuber und Totschläger war - aber doch auch ein fescher Kerl, ein krimineller Popstar, der die Obrigkeit im Vormärz derart lang und effektvoll zum Narren zu halten wusste, dass das obrigkeitsverstörte Volk dankbar den alten Robin-Hood-Mythos auf ihn projizierte.

In kalligraphischer Antiqua

Man hat auch aus Joseph Kyselak, dem jungen, absolut integren Beamten und ganz zeitgeistigen Romantiker, einen Rebellen zu machen versucht: Seine (keineswegs gekritzelten oder hingeschmierten, sondern in geradezu kalligraphischer Antiqua gemalten, bei Bedarf auch gemeißelten) Namenszüge in allen Kronländern Österreich-Ungarns (angeblich Hunderte - etwa dreißig sind bis heute erhalten), in bis zu 11,5 Zentimeter großen, stets identisch ausgeführten Lettern (die Kyselak-Forschung ist da penibel!) hat man als subtilen politischen Protest, zumindest als Subversion eines Unangepassten zu interpretieren versucht.

In letzter Zeit wird die Marotte (vielleicht auch nur spaßige Gewohnheit; keinesfalls aber "Manie"!)des ansonsten so gut wie unbekannten Wiener Beamten Kyselak, an Felswände und pittoreske Ruinen mit schwarzer Ölfarbe groß und auffallend stilisiert seinen Namen zu pinseln, gar als Vorwegnahme heutigen "Grafitti"-Wesens gedeutet.

Über Stock und Stein

Nun empfiehlt sich zuvor wohl doch ein Blick aufs (äußer- wie innerliche) Ambiente: Kyselak war, in monatelangen Urlauben zu Fuß, buchstäblich durch Berg und Tal, über Stock und Stein, ein Reisender in andere, Gegen-Alltags-Welten, und als solcher ein höchst interessierter "Ruinenkletterer" in einer Zeit, da ehemalige Burgen keineswegs als schützenswerte Denkmäler, sondern als bequeme Recycling-Steinbrüche galten.

Er "signierte" allenfalls, wenn man so will, besondere, ihn begeisternde points de vue, besonders malerische Felsen und Perspektiven - aus zutiefst romantischer Motivation, ein sehnsüchtiger (und, im übrigen, hochgebildeter und außerordentlich belesener) Mann, der sich - vielleicht - einen Jux machen und auch einmal ein "Taugenichts" sein wollte.

Ein weltumarmender Amateur

Kyselaks Signier-Motive ergeben insgesamt das ziemliche Gegenteil dessen, was einen Grafitti-Sprüher in großstädtischer Ödnis zu seinem Tun bewegen mag - ganz abgesehen davon, dass Joseph Kyselak seinen tatsächlichen Namen zu hinterlassen wünschte, also aus der Anonymität heraus und nicht, als Tagger mit Nickname, in sie hinein wollte.

Er muss, dieser Kyselak, ein sehr bemerkenswertes Kind seiner Zeit gewesen sein, ein Dilettant von ganzem Herzen, ein weltumarmender Amateur - mit literarischer Ambition: denn er schrieb beileibe nicht nur seinen Namen.

Er brachte, nach seiner bis dato ausgedehntesten Fußreise, im Jahr 1829 die zweibändigen "Skizzen einer Fußreise durch Österreich" heraus, ein Reisetagebuch und Beobachtungsprotokoll, merklich dem damals hochberühmten intellektuellen "Spaziergänger" aus Sachsen nachempfunden, dem Johann Gottlieb Seume, der 1803 seinen aufklärerisch-witzigen "Spaziergang nach Syrakus" publiziert hatte - auf dem er in natura, auf dem Weg von Leipzig nach Sizilien, natürlich ebenfalls durch Österreich gekommen war.

Historische Quelle für Forscher

Die "Skizzen" des Joseph Kyselak haben nicht Seumes literarisches Niveau, geben aber Zeugnis von einer bildungsbeseelten, von aufkeimenden Individualismus unheilbar infizierten Persönlichkeit, die ein gescheiter, anregender, witziger, in jedem Fall aber sympathischer Zeitgenosse in einer insgesamt wenig sympathischen Zeit gewesen sein könnte. (Ganz abgesehen davon, dass die Kyselak-"Skizzen" heute eine historische Quelle ersten Ranges für Naturwissenschaftler, Volkskundler und Historiker aller Art sind!)

Er wollte sein Buch ausdrücklich (im Nachwort vermerkt!) als Auftakt und ersten Versuch verstanden wissen, wollte ganz offenkundig Schriftsteller werden, da Beamtenkarrieren wie die seine damals halt zäh und eng auf das Ewiggleiche beschränkt waren. Er wollte ein Erlebnisamt haben.

Ein bisschen unsterblich

Was immer der bedeutende Wiener Biedermeier Joseph Kyselak mit seinen nebstbei gemalten Namens-Labels wollte - vielleicht auch nur eine Hetz haben, vielleicht auch, wie's eine der vielen Anekdoten besagt, eine Wette gewinnen - gelungen ist ihm in seinem kurzen, nicht einmal ganz 31-jährigen Dasein, Leuten im Gedächtnis zu bleiben, die seinerzeit noch längst nicht auf der Welt waren, noch 100, 150 Jahre nicht.

Immerhin ein bisserl eine Unsterblichkeit. Und ganz schön romantisch.

Hör-Tipp
Literatur am Feiertag, Montag, 1. Juni 2009, 14:05 Uhr