Unterschiedliche Erinnerungen

Vier Nationen, drei Schriften und zwei Genozide

Die im Land lebenden Litauer, Polen, Juden, Russen und Weißrussen haben eine unterschiedliche Sicht der Vergangenheit. Das kleine Land im Nordosten Europas ist so etwas wie ein Forschungslabor für die Tücken der Geschichts- und Erinnerungspolitik.

Für die Polen war Wilno die Wiege der polnischen Romantik, für die Juden Wilne, wie sie die Stadt nannten, das "Jerusalem des Nordens". Für die Weißrussen war Wilnja das Zentrum der Entstehung ihrer Schriftsprache, für die Russen war Wilna eine typische russische Provinzstadt - Litauen war ja seit 1795, seit der dritten polnischen Teilung, Teil des russischen Zarenreichs. Und für die Litauer war Vilnius immer die nationale Hauptstadt.

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen führte in der litauischen Hauptstadt zu einem nahezu vollständigen Bevölkerungsaustausch: Nahezu alle Juden wurden im Holocaust vernichtet, nach dem Krieg wurden die meisten Polen ausgesiedelt, dafür zogen Litauer und Russen nach Vilnius.

Erinnerungen nur an Litauen als Sowjetrepublik

Aus einer mehrheitlich polnisch-jüdischen Stadt wurde so nach 1945 eine litauisch-russische. "Man hat eine komplett neue Bevölkerung geschaffen. Das trägt dazu bei, dass es keine Erinnerung gibt", sagt der österreichische Historiker Johannes Langer, der über die litauische Erinnerungskultur forscht. Diese beruht im heutigen Litauen in der Hauptsache auf der Zeit Litauens als Sowjetrepublik von 1940 bis 1990.

Zentraler Ort dieser Erinnerung ist das "Museum der Genozid-Opfer". Es beleuchtet aber nicht, wie man im westeuropäischen Sprachgebrauch vermuten würde, die Vernichtung der litauischen Juden, sondern die Verbrechen der Sowjetzeit. Seine Bezeichnung stößt bei Historikern aus dem Ausland immer wieder auf Widerspruch. Kann der stalinistische Terror wirklich als Genozid, also als Völkermord an den Litauern definiert werden?

Gegenüber dem Gulag verblasst der Holocaust

Die zwischen 1941 und 1944 erfolgte Ermordung der litauischen Juden war so brutal wie kaum anderswo, in keinem anderen von der Deutschen Wehrmacht besetzten Ländern hatten Juden eine geringere Überlebenschance. Doch gegenüber der 50 Jahre dauernden sowjetischen Okkupation treten die dreieinhalb Jahre der nationalsozialistischen Besatzung des Landes in den Hintergrund, gegenüber dem Gulag verblasst der Holocaust.

Das zeigt sich am deutlichsten im Stellenwert zweier Museen im Stadtbild von Wilna: Während das Genozid-Museum, das an die sowjetischen Verbrechen erinnert, an einem prominenten Ort liegt und überall ausgeschildert ist, findet man das Jüdische Museum erst, wenn man knapp davor steht. Kein Schild führt zu dem abseits gelegenen grünen Holzhaus.

Opferkonkurrenz

Es geht also auch um Opferkonkurrenz: die Juden waren Opfer eines Genozids, die Litauer wollen auch als solche anerkannt werden. An ihnen sei zumindest ein "geistiger" und "spiritueller" Genozid verübt worden, kann man auf der Webseite des "Genocide and Resistance Research Center" in Vilnius lesen.

"Das Wort "Genozid" wurde in den ersten Untersuchungen und Publikationen verwendet, das war in den frühen 1990er Jahren in der Unabhängigkeitsbewegung ganz typisch", sagt Birute Birauskaite, die als Direktorin erst seit Jänner dieses Jahres im Amt ist. Aber sie fügt auch hinzu: Wenn sie heute mit der Arbeit an der Liste der Opfer des Sowjetsystems neu anfangen würde, dann würde sie dafür die Bezeichnung Genozid nicht mehr wählen.

Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 17. Juni 2009, 19:05 Uhr

Übersicht

  • Litauen