"Das Ich gibt es gar nicht"
Philosophie, die an der Zeit ist
In den letzten Jahren hat sich die Philosophie immer mehr konkreten Problemen zugewandt. Denn die explosionsartigen Entwicklung der Biowissenschaften und der Neurophilosophie haben das Selbstverständnis des Menschen radikal verändert.
8. April 2017, 21:58
Die akademische Philosophie befasste sich meist mit der Frage nach dem Sein, mit abstrakten moralischen Prinzipien oder ästhetischen Kategorien. Das hat sich aber in den letzten Jahren geändert. Brennende aktuelle Themen wie Verteilungsgerechtigkeit der materiellen Güter, wachsende Armut, Migration und die Anerkennung anderer Kulturen werden immer häufiger von Philosophen/innen aufgenommen.
Die explosionsartige Entwicklung der Biowissenschaften und der Neurophilosophie hat das Selbstverständnis des Menschen radikal verändert. Die Vorstellung einer personalen Identität gerät ins Wanken; das Ich agiert nicht mehr als Steuermann, sondern "als ein virtueller Akteur in einer von unserem Gehirn konstruierten Welt, die wir als unsere Lebenswelt erfahren" - so der Hirnforscher Gerhard Roth. Diese Aussagen des Vertreters der Neurophilosophie klingen wie Hammerschläge, die das vertraute Bild vom Menschen als kalkulierbares Wesen zertrümmern.
Interkulturelle Philosophie
Einen gleichberechtigten philosophischen Dialog zwischen den Kulturen anzuregen, ist das Ziel der interkulturellen Philosophie. Die interkulturelle Philosophie wendet sich gegen eine Weltsicht, die nur die eigene Perspektive gelten lässt und alle anderen ausschließt.
Interkulturelles Denken richtet sich nicht nur gegen die Vorstellung einer Philosophie, die eine gültige Wahrheit beansprucht, sondern auch gegen die privilegierte Stellung der europäischen Philosophie. Als Alternative dazu werden Grundzüge afrikanischen Denkens präsentiert.
Postmodernes Denken
Die Philosophie wurde lange Zeit als ein Projekt betrachtet, dass die Metaphysik in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen stellte. Dabei ging es um ein höheres Sein, das die Vielfalt menschlicher Erfahrungen negierte.
Viele Philosophen der sogenannten Postmoderne wie etwa Jean-Luc Nancy, Gianni Vattimo oder Sarah Kofman waren und sind nicht mehr bereit, den metaphysischen Diskurs des Abendlandes mitzutragen. Sie propagieren einen Körper der Verletzungen (Nancy), ein "schwaches Denken" (Vattimo) und ein Sich-Verleugnen, ein Sich- Verstecken hinter den Masken philosophischer Autoritäten (Kofman). Gemeinsam ist diesen Autoren und Autorinnen ein experimentelles Denken, das den akademischen Rahmen sprengt.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag 22. Juni bis Donnerstag, 25. Juni 2009, 9:30 Uhr
Buch-Tipps
Seyla Benhabib, "Die Rechte der Anderen", Suhrkamp Verlag
Thomas Pogge, "Weltarmut und Menschenrechte", Walter de Gruyter Verlag
Dieter Birnbacher, "Natürlichkeit", Walter de Gruyter Verlag
Gerhard Roth, "Aus Sicht des Gehirns", Suhrkamp Verlag
Heinz Kimmerle, "Interkulturelle Philosophie zur Einführung", Junius Verlag
Franz Wimmer, "Interkulturelle Philosophie", Wiener Universitätsverlag
Sarah Kofman, "Melancholie der Kunst", Passagen Verlag
Sarah Kofman, "Erstickte Worte", Passagen Verlag
Jean-Luc Nancy, "Corpus", Diaphanes Verlag
Jean-Luc Nancy, "Der Eindringling", Merve Verlag
Gianni Vattimo, "Das Ende der Moderne", Reclam Verlag