Wenn sich die Sinne vermischen

Bunte Beatles und spitze Hühnchen

Wenn sich die Sinne vermischen: Buchstaben werden farbig oder lösen einen Geschmack auf der Zunge aus. Bei anderen Betroffenen wiederum erzeugt "Mittwoch" einen anderen Geruch als "Donnerstag". Forscher sprechen in solchen Fällen von Synästhesie.

Synästhesie - ein Kunstwort, abgeleitet von den altgriechischen Wörtern "syn" und "aisthesis": in der deutschen Übersetzung heißt das "zusammen" und "Empfindung". Der Duden definiert das Phänomen als "Miterregung eines Sinnesorgans bei Reizung eines anderen".

Manche Synästhetiker können Töne in bunten Farben sehen. Für andere wiederum schmeckt eine bestimmte Musik süß, sauer oder salzig. Die meisten verbinden Musik, Texte oder Zahlen mit bestimmten Farben. Ein synästhetisches Erlebnis überlagert dabei jedoch nicht die anderen Wahrnehmungen wie das Hören, Sehen oder Schmecken. Es ist einfach zusätzlich da, ohne dass die Betroffenen selbst Einfluss auf ihre Wahrnehmungen haben.

Frauen sind am meisten betroffen

Experten schätzen, dass einer von 2.000 Menschen Synästhetiker ist. Genaue Zahlen aber kennt keiner. Klar hingegen ist, dass das Phänomen Synästhesie fast ausschließlich Frauen betrifft. Nur zehn bis 20 Prozent der Betroffenen sind Männer. Das könnte daran liegen, dass das für Synästhesie verantwortliche Gen auf dem X-Chromosom liegt und Frauen ja im Gegensatz zu Männern über zwei X-Chromosomen verfügen - eine Hypothese, die plausibel klingt, aber noch nicht belegt werden konnte. Experten gehen auf jeden Fall inzwischen fest davon aus, dass Synästhesie vererbbar ist.

Die meisten Betroffenen jedenfalls sind so genannte genuine Synästhetiker, bei denen Töne und Buchstaben spezielle Farbassoziationen hervorrufen. Wesentlich kleiner ist die Gruppe der so genannten Gefühlssynästhetiker. Bei diesen Menschen hängen die Assoziationen von der Stimmungslage ab, außerdem sind die Farben bei ihnen nicht ständig präsent.

Lange bekannt, aber nicht ernst genommen

Obwohl es schon seit dem 17. Jahrhundert Berichte über Synästhetiker gibt, wussten Wissenschaftler mit dem Phänomen lange nichts anzufangen oder nahmen es nicht ernst. Vor allem in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden synästhetische Wahrnehmungen zumeist als Halluzinationen unter Drogeneinfluss abgetan.

Heute hingegen ist klar: Ein genaueres Verständnis von der Synästhesie kann helfen, mehr über die komplexe menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen zu erfahren. Denn auch bei Nicht-Synästhetikern werden Sinnesreize unwillkürlich miteinander verknüpft - Experten wie Hinderk Emrich sprechen hier vom Phänomen des "Binding".

Binding und Hyperbinding

"Wenn wir beispielsweise zum ersten Mal mit der Hand über ein Stück Samt fahren, wird dieser Sinneseindruck unmerklich gespeichert. In Zukunft müssen wir den Samt nur sehen, um dieses Gefühl von Weichheit zu spürender. Oder anders gesagt: Über die visuelle Wahrnehmung erfolgt auch eine haptische Wahrnehmung, obwohl wir den Stoff gar nicht berühren. Dieses Verschmelzen von zwei Wahrnehmungen über nur ein Sinnesorgan ist besonders wichtig bei Gefahr: Ein Feuer ist nicht nur rot, sondern wird auch sofort mit heiß assoziiert."

Im Gehirn von Synästhetikern nun vollzieht sich eine Art "Hyperbinding", da sich bei ihnen zusätzliche Sinneskanäle koppeln. Ein Feuer ist eben nicht nur rot und heiß, sondern schmeckt für den Synästhetiker vielleicht auch noch salzig oder bitter. Wenn die Wissenschaft versteht, wie diese außergewöhnliche Kopplung im Gehirn funktioniert, lässt das auch Rückschlüsse auf die Grundlagen unserer Wahrnehmung zu - oder: Wer das Hyperbinding enträtselt, versteht auch das Problem des Bindings.

Kognitive Fossilien

Der erste, der das erkannte und die Synästhesie zum ernsthaften Gegenstand der modernen Wissenschaft machte, war der amerikanische Neurologe Richard Cytowic. Er kam zu dem Schluss, dass die Synästhesie vom so genannten limbischen System gesteuert wird. So nennen Hirnforscher jenes Areal, das Gefühle, Affekte und Erinnerungen ermöglicht, quasi das Gegenstück zur Großhirnrinde. Cytowic schuf damit die Grundlage für einen Erklärungsansatz, der bis heute viele Anhänger hat.

Das limbische System gehört zum stammesgeschichtlich älteren Teil unseres Gehirns. Daraus schlussfolgert der Neurologe Cytowic, dass die Fähigkeit zur synästhetischen Wahrnehmung den meisten Menschen im Laufe der Evolution abhanden gekommen ist. Er nennt Synästhetiker deshalb "kognitive Fossilien".

Britische Forscher von der Universität Cambridge hingegen sind der Auffassung, dass die Sinnesverknüpfung bei Synästhetikern durch eine unmittelbare Verbindung der betroffenen Hirnregionen zustande kommt - beim Farbenhören etwa durch eine Verbindung von Seh- und Hörzentrum. Einig sind sich aber die Anhänger beider Theorien darin, dass alle Menschen zunächst einmal als Synästhetiker geboren werden, dass jedoch nur bei einigen wenigen Säuglingen die entscheidende Verbindung der Sinneswahrnehmungen bestehen bleibt - egal auf welchem Wege diese Kopplung zustande kommt.

Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 22. Juni 2009, 19:05 Uhr

Buch-Tipps
Eckhard Freuwört, "Vernetzte Sinne. Über Synästhesie und Vehrhalten", Books on Demand

"Gehirn und Erleben. Synästhesie, Zeitempfinden, Bewusstsein", Spektrum der Wissenschaft

Patricia Duffy,Michael Müller, "Jeder blaue Buchstabe duftet nach Zimt. Wie Synästhetiker die Welt erleben", Goldmann

Hinderk M. Emrich, Udo Schneider, und Markus Zedle, "Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: das Leben mit verknüpften Sinnen", Hirzel

John Harrison, Anja Masselli, "Wenn Töne Farben haben: Synästhesie in Wissenschaft und Kunst", Spektrum Akademischer Verlag

Links
Synästhesie.com
Synästhesieforum.de