Jürgen Habermas feiert seinen 80. Geburtstag
Für Demokratie, Vernunft und Gerechtigkeit
Jürgen Habermas ist einer der wichtigsten Vertreter der zweiten Generation der Frankfurter Schule. Mit Hilfe von Sozialforschung wollten die Intellektuellen die Herrschaftsstrukturen einer profitorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufzeigen.
8. April 2017, 21:58
Jürgen Habermas im Ö1 Mittagsjournal über den Dialog der Kulturen
Vor aktuellen Fragen hat sich Jürgen Habermas nie gedrückt. Einer der bekanntesten lebenden Denker Deutschlands bezieht Stellung - etwa wenn er in der Finanzkrise den jahrelang untätigen Politikern die Schuld gibt: "Die Politik macht sich lächerlich, wenn sie moralisiert, statt sich auf das Zwangsrecht des demokratischen Gesetzgebers zu stützen."
Das theoretische Hauptwerk des Philosophen und Soziologen galt seit den 1970er Jahren der Frage, über welche Form des "Diskurses" eine Gesellschaft demokratisch organisiert werden kann. Er hat damit das geistige Klima der Bundesrepublik bis heute nachhaltig geprägt. Am Donnerstag, 18. Juni wird der Philosoph und Soziologe 80 Jahre alt.
"Normgeber" der Bundesrepublik
Immer wieder habe Habermas über die Grenzen der Universitäten Werte der Demokratie wie Vernunft, Gerechtigkeit und Solidarität angemahnt, würdigte Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) am Mittwoch die Bedeutung des großen Geisteswissenschaftlers.
Als Analytiker und Normgeber der Bundesrepublik hat Habermas auch stets Europa einbezogen. Wäre es nach Habermas gegangen, hätten zum Beispiel die EU-Staaten die Europawahl mit einem Referendum über die Zukunft der Union verbunden. Es gebe, so sein Befund aus dem Jahr 2007, in den meisten kontinentalen Ländern "nach wie vor schlafende Mehrheiten für eine Vertiefung der Europäischen Union".
Habermas ist bis heute im öffentlichen Diskurs präsent. In Aufsätzen und Interviews geißelte er die Irak-Politik des früheren US-Präsidenten George W. Bush. Dabei wetterte er gegen dessen "selbstzerstörerische Politik", legte aber stets Wert darauf, dass seine Kritik "nicht den geringsten Beiklang antiamerikanischer Gefühle" habe.
Raus aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm
Als Philosoph steht Habermas in der Nachfolge der "Frankfurter Schule" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. An deren Institut für Sozialforschung arbeitete der gebürtige Düsseldorfer von 1956 bis 1959 zunächst als Assistent. Damals sei er "intellektuell in ein neues Universum eingetreten", berichtete er später. Bevor er 1964 Horkheimers Lehrstuhl erben sollte, erwarb er die Lehrbefugnis in Marburg und war Professor in Heidelberg. Die "Kritische Theorie" seiner Frankfurter Lehrer führte er fort und veränderte sie dennoch: Er holte sie heraus aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm und trug sie mitten hinein in die Gesellschaft.
Habermas liefere "eine komplexe Diagnose der Unvermeidlichkeiten, Chancen und Risiken unseres weltgeschichtlichen Ortes", formulierte es Jan Philipp Reemtsma bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Philosophen 2001 in der Frankfurter Paulskirche.
Zwiespältiges Verhältnis zur 1968er Bewegung
Die 1968er hatten sich zwar auf Habermas' Lehren berufen, doch der wandte sich damals bald ab von der Studentenbewegung; deren Anführer Rudi Dutschke nannte er einen "linken Faschisten", eine Bezeichnung, die er heute bedauert. Eine breite Demokratisierung der Gesellschaft sieht Habermas als unbestreitbaren Erfolg jener Revolte. Die Linken sind Habermas treugeblieben: Der rot-grünen Bundesregierung (1998-2005) diente er als Stichwortgeber, für den damaligen Außenminister Joschka Fischer (Grüne) wurde Habermas sogar "fast ein Staatsphilosoph".
1971 kehrte Habermas Frankfurt vorübergehend den Rücken und leitete zwei soziologisch ausgerichtete Max-Planck-Institute in Bayern. 1983 kehrte er ein drittes Mal an den Main zurück und übernahm einen Philosophie-Lehrstuhl an der Universität Frankfurt, wo er 1994 aus dem Universitätsdienst ausschied. Er lebt heute in Starnberg in Bayern.
Sozialismus und Demokratie versöhnen
Sein 1981 erschienenes Hauptwerk trägt den Titel "Theorie des kommunikativen Handelns". Darin entwirft Habermas eine Art Handlungsleitfaden für die moderne Gesellschaft. Es ist auch der Versuch, Sozialismus und Demokratie zu versöhnen. Die Gesellschaft soll ihre Regeln in einem "herrschaftsfreien Diskurs" selbst aufstellen, indem sich die Bürger gemeinsam auf Erlaubtes und Verbotenes einigen. Dahinter steckt zum einen ein positives Menschenbild, zum anderen der ungebrochene Glaube an die Vernunft.
Historikerstreit und angebliche Nazi-Vergangenheit
Die Gesellschaft, die Habermas mit geistigen Fundamenten untermauern will, wird getragen von einem "Verfassungspatriotismus", der seinen Stolz aus dem Grundgesetz und nicht aus der Nation schöpft. Mitte der 1980er Jahre löste Habermas mit einer Replik auf Ernst Nolte den Historikerstreit aus: Der Geschichtswissenschaftler hatte die Einzigartigkeit des Holocaust infrage gestellt, Habermas kritisierte dies als "Relativierung" des Massenmordes.
In den Feuilletons ging es jedoch in den vergangenen Jahren nicht nur um die Kritik des sprachgewaltigen Philosophen an den Mächtigen dieser Welt. Habermas wurde 2006 selbst zum Thema. Es ging um seine Rolle in der NS-Zeit. In einer Passage seiner Autobiografie hatte der kurz zuvor gestorbene Publizist Joachim C. Fest Habermas, der zum Kriegsende 15 Jahre alt war, in die Nähe des NS-Regimes gerückt. Gegen das Buch erwirkte Habermas eine Verfügung. Ein Artikel in der Zeitschrift "Cicero" hatte außerdem über Habermas' Zeit als Mitglied der Hitlerjugend und Gerüchte um angebliche "Endsiegparolen" des jungen Habermas berichtet. Habermas war empört und schimpfte über "Denunzianten", die "eine unbequeme Generation von Intellektuellen abräumen" wollten.
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