Mehrfachstaatsbürgerschaften als Zukunftsmodell
Transnationale Bürgerschaft
Weltweit ist in den letzten Jahren die Zahl mehrfacher Staatsbürgerschaften rapide angestiegen. Immer mehr Staaten tolerieren, dass ihre Bürger zugleich auch anderen Staaten angehören - ein Trend, der bis vor kurzem unvorstellbar gewesen wäre.
8. April 2017, 21:58
Die Idee, dass Menschen nur Bürgerinnen und Bürger eines einzigen Staates sein können, galt bis vor wenigen Jahrzehnten als unverrückbare Norm. "Jeder Mensch soll eine Staatsangehörigkeit haben und nur eine Staatsangehörigkeit", hieß es etwa in der Präambel der Haager Konvention aus dem Jahr 1930, die als erstes internationales Abkommen zwischenstaatliche Fragen der Staatsbürgerschaft berührte.
Mehrfachstaatsbürgerschaften wurden als "Übel" betrachtet, das es zu vermeiden galt, warfen diese doch eine Reihe von schwierigen Fragen auf: Wo sollen die Betroffenen ihren Wehrdienst ableisten? Wo ihre Steuern zahlen? Und wer ist im Fall des Falles für den diplomatischen Schutz zuständig?
Neue Positionen zu einer alten Frage
Erst das vom Europarat im Jahr 1997 aufgelegte Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit bezog hier eine neue Position, sagt Gerd Valchars, Politikwissenschaftler am Institut für Europäische Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. "Da wurde erstmals anerkannt, dass es nicht unbedingt ein 'Übel’ sein muss und dass es auch Länder gibt, die Doppelstaatsbürgerschaft akzeptieren und als normal ansehen."
Mehrfachstaatsbürgerschaften auf dem Vormarsch
Das spiegelt sich auch in den konkreten europäischen Staatsbürgerschaftspolitiken. Die Zahl jener Staaten, die Doppel- und Mehrfachstaatsbürgerschaften in rigider Weise ausschließen, nimmt deutlich ab, sagt Rainer Bauböck, Professor für politische und soziale Theorie am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.
"Man kann das nicht nur damit erklären, dass diese Staaten eingesehen haben, dass es für Einwanderer unzumutbar ist, die bisherige Staatsbürgerschaft zurückzulegen, sondern auch als einen unbeabsichtigten Nebeneffekt von anderen Entwicklungen begreifen – etwa einer geschlechterneutralen Formulierung des Abstammungsprinzips. Das bedeutet, dass Staatsbürgerschaft sowohl von Vater- als auch von Mutterseite erworben werden kann. Wenn das einmal der Fall ist, dann sind Kinder aus staatsbürgerschaftlichen Mischehen automatisch Doppelstaatsbürger per Geburt", sagt Rainer Bauböck.
"Und dann stellt sich die Frage, warum es einen Unterschied geben soll zwischen jenen, die per Geburt als Doppelstaatsbürger anerkannt werden und jenen, die sich einbürgern wollen und gezwungen werden, die andere Staatsbürgerschaft zurückzulegen."
Kontakt zu Auslandsbürgern
Ein zweiter Grund, der Rainer Bauböck zufolge viele Staaten zu Reformen veranlasst, ist der, dass man die eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nicht verlieren will, wenn diese sich anderswo einbürgern lassen.
"Manche Staaten wie Schweden und Finnland haben gesagt: Ja, wir wollen unsere Beziehungen zu unseren Auslandsbürgern erhalten. Aber dann müssen wir anerkennen, dass dasselbe Prinzip auch für Einwanderer in Schweden und Finnland gilt und dass diese nicht gezwungen werden können, die Beziehungen zu ihren Herkunftsländern aufzugeben."
Restriktiver Zugang in Österreich
Österreich gehört gemeinsam mit Deutschland, Dänemark und den Niederlanden zu den letzten vier unter den 15 alten EU-Mitgliedstaaten, die bei der Einbürgerung noch immer die Aufgabe der alten Staatsbürgerschaft verlangen. Während Deutschland und die Niederlande allerdings zahlreiche Ausnahmen machen, bleiben Dänemark und Österreich restriktiv.
Wer sich in Österreich einbürgern lassen will, darf seine oder ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit nur dann behalten, wenn das Herkunftsland das Ablegen der Staatsbürgerschaft verbietet, erklärt der Migrationsforscher Bernhard Perchinig. Das sei vor allem in arabischen Ländern der Fall, wo ein Konzept von Staatsbürgerschaft als ewiger Zugehörigkeit vorherrsche.
Ansonsten ist Doppelstaatsbürgerschaft in Österreich unter bestimmten Bedingungen erlaubt - etwa bei Kindern aus gemischtstaatsbürgerlichen Ehen. Sobald sie das 18. Lebensjahr erreichen, müssen sie sich allerdings entscheiden.
Zukunftsszenarien
Menschen auf die Zugehörigkeit zu einem einzigen Staat zu reduzieren, wird in einer Welt wachsender transnationaler Mobilität und Migration zunehmend zum Anachronismus.
Langfristig, so Rainer Bauböck, wird man in alternativen Modellen denken und anerkennen müssen, dass politische Gemeinschaften nicht länger als in sich abgeschlossene Entitäten begreifbar sind. "Ich glaube, dass die Zukunft möglicherweise eine politische Ordnung der Welt ist, in der die Territorien zwar noch klare Grenzen haben, aber die Staatsbürgerschaften ineinander verschachtelt und teilweise überlappend sind."
Mehr zum Thema "Staatsbürgerschaft" in oe1.ORF.at
Der Aufstieg des Konzepts Staatsbürgerschaft
Aktuelle Staatsbürgerschaftspolitiken in Europa
Staatenlose in Europa
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 6. Juli bis Donnerstag, 9. Juli 2009, 9:05 Uhr
Buch-Tipps
Rainer Bauböck, Bernhard Perchinig, Wiebke Sievers (Hg.), "Citizenship Policies in the New Europe", Amsterdam University Press 2007 (IMISCOE Research)
Rainer Bauböck, Eva Ersbøll, Kees Groenendijk, Harald Waldrauch (Hg.), "Acquisition and Loss of Nationality. Policies and Trends in 15 European states", 2 Bände, Amsterdam University Press 2006
Rainer Bauböck (Hg.), "Migration and Citizenship. Legal Status, Rights and Political Participation", Amsterdam University Press 2006
Christoph Conrad, Jürgen Kocka (Hg.), "Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten", Edition Stiftung Körber 2001.
Links
Eurozine - Wer sind die Bürger Europas?
Demokratiezentrum Wien
European Union Democracy Observatory on Citizenship
Institut für europäische Integrationsforschung
IMISCOE - NATAC Project