Die Bewohner der Slums
Aus Hütten wird Stadt
Die Städte Asiens, Afrikas, Südamerikas wachsen mit einer Geschwindigkeit, die in der Menschheitsgeschichte noch nie da war. Um 1800 lebten gerade einmal zwei Prozent der Menschen in Städten. Heute sind es über 50 Prozent. Wer aber baut diese Städte?
8. April 2017, 21:58
Zigtausende Menschen weltweit beschließen Monat für Monat, ihre alte Heimat, das Land, zu verlassen und in den großen Städten ihr Glück zu versuchen. Das Glück heißt: überleben, einen Job finden, und irgendwo eine kleine Ecke, in der man hausen kann, in der man sich was aufbauen kann. Zuerst einmal ein Dach über dem Kopf. Alles Weitere folgt dann schon.
Diese Menschen - und nicht Regierungen oder Wohnungsgenossenschaften - bauen die Städte der Zukunft. Die Ärmsten der Armen bauen sich ihre Städte selbst. Und sie sind viele. Sie machen jetzt schon ein Drittel aller Stadtbewohner weltweit aus.
Damit diese neue Form der informellen Großstadt funktionieren kann, braucht es ein paar wichtige Voraussetzungen. "Die wichtigsten sind: Die Menschen brauchen die Sicherheit, nicht schon morgen wieder vertrieben zu werden. Und: Sie brauchen eine Art Zugang zur Politik", meint der Amerikaner Robert Neuwirth, Journalist und Autor eines Buches mit Titel "Shadow Cities". Er hat zwei Jahre in sogenannten Slums gelebt. In Rio, Mumbai, Istanbul und Nairobi.
Für ihn ist diese Sicherheit, bleiben zu können, der elementare Faktor der neuen Stadtentwicklung. Wer diese Sicherheit hat, baut Schritt für Schritt seine Existenz auf, beginnt zu Handeln, eröffnet ein kleines Geschäft und in ein paar Jahren - wer weiß - vielleicht sogar ein Mikro-Unternehmen.
Vorzeigebeispiel Türkei
Dass man die Siedler als Städtebauer akzeptieren muss, sickert langsam auch in die Köpfe der sogenannten Verantwortungsträger. Mit gutem Beispiel geht da etwa die Türkei voran. Slums heißen dort Gecekondus. Und die haben sich über die Jahrzehnte zu lebendigen, durchaus lebenswerten Vierteln entwickelt.
"In der Türkei hat sich die Rechtssituation für Siedler als äußerst vorteilhaft herausgestellt", so Neuwirth. "Vor allem im Fall der Gecekondus gibt es ein über hundert Jahre altes Gesetz, das besagt: Wenn du dein Haus über Nacht baust und nicht erwischt wirst, kannst du ohne Gerichtsverfahren nicht mehr rausgeworfen werden. Die Stadt kann also nicht einfach Bulldozer schicken und dein Haus demolieren." Denn genau das ist das Katastrophenszenario für jeden Siedler und - vor allem in Indien - gang und gäbe. Ban Ki-moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, geißelt diese Vorgänge denn auch im UN-Habitat Report."
Gemeinsam Infrastruktur entwickeln
Wie kann aber urbane Entwicklung ohne Ausgrenzung, ohne Vertreiben funktionieren? Vor allem gemeinschaftlich, meint Neuwirth: "Das Wichtigste ist, diese Leute als Partner zu betrachten. Das sind ganz normale Viertel, und die vergrößern sich mit jedem Tag. Nur ein Beispiel: Lagos wächst um eine Million Menschen pro Jahr - und diese Entwicklung wird international weitergehen. Die Lösung heißt also nicht, Menschen auszusiedeln oder ein unleistbares Mieten-System einzuführen, sondern mit den Leuten zusammenzuarbeiten und diese Viertel gemeinsam zum Funktionieren zu bringen."
Nur: Hütten ergeben eben noch keine Stadt. Es braucht Wasser, Strom, Kanalisation. Es braucht Gehwege und Erschließungen. Und genau hier sind Regierungen, aber auch Unternehmen gefragt. Enrique Penalosa war bis 2001 Bürgermeister von Bogotá. Er ist einer der ganz wenigen Stadtväter, die vorausschauend geplant und noch freie Flächen in der Stadt mit Wegen und Infrastruktur für die zu erwartenden Siedler vorbereitet haben.
"Ungleichheit und Ausgeschlossensein können mehr schmerzen als Armut", so Penalosa. "Doch die Art und Weise, wie wir unsere Städte organisieren, kann ein mächtiges Instrument auf dem Weg zu sozialer Gerechtigkeit sein." Und dazu gehören auch andere Infrastrukturmaßnahmen, die sehr wohl von Stadtregierungen beigestellt werden können: Schulen und Ausbildungsstätten zu allererst. Aber auch urbane Bausteine, die man anderswo als Selbstverständlichkeit erachtet. "Gehwege, Fahrradwege, Plätze, Parks, Promenaden, Sportplätze demonstrieren Respekt und Verantwortung vor der Menschenwürde und stellen einen Anfang dar, die Ungerechtigkeiten in anderen Bereichen zu kompensieren", meint Penalosa.
Wo weniger sozial engagierte Häuptlinge am Werk sind, müssen sich die Favelistas und Barrio-Bewohner selbst organisieren und Verbesserung erzwingen. Wie zum Beispiel in Sao Paulo. Die brasilianische Städtebauprofessorin Teresa Caldeira hat erlebt, wie sich die Menschen zusammengetan und um ihre Rechte zu kämpfen begonnen haben. Das dauerte zwar ein Weilchen, aber es funktionierte, denn: auch Slum-Bewohner geben Stimmen bei Wahlen ab, und das war immer schon ein gutes Druckmittel.
Auch Unternehmen sind gefordert
Für eine noch weitere Verbesserung wären auch noch andere gefragt - und nicht nur Politiker, ist Robert Neuwirth überzeugt. Zum Beispiel die Unternehmen. "In den Entwicklungsländern ziehen die Menschen der Jobs wegen in die Städte. Nicht nur Stadtregierungen, sondern auch die Unternehmen sollten aufgefordert werden, Infrastruktur für die Menschen bereitzustellen. Schließlich sind sie es, die an diesem großen billigen Arbeitsmarkt profitieren."
Doch es ist viel praktischer zu sagen, ach, die aus den Slums. Sind doch alles Verbrecher, an denen ist Hopfen und Malz verloren. Auch dieses Vorurteil macht die Weiterentwicklung informeller Siedlungen nicht gerade einfacher. "Ich habe überall die Erfahrung gemacht, dass es nicht mehr Kriminalität in Squatter Communities gibt als anderswo in den Städten", sagt Neuwirth. "Kriminalität ist kein spezielles, sondern ein generelles Problem in Städten."
Studien geben ihm darin Recht. Tatsächlich kann man sich die Frage stellen, wo die größten Verbrechen passieren. Womöglich wird man dort fündig, wo das große Kapital die Stadtkonturen prägen will, denn neuen Business Districts und Gated Communities für Superreiche musste schon so manche Shanty Town weichen. Ersatzquartiere für die Armen? Wenn überhaupt, dann irgendwo weit draußen. Eine solche einseitige Stadtentwicklung produziere geradezu Hunger und Armut, wo vorher ein Auslangen war, sagt Neuwirth.
Hohe Kreativität
Und noch ein Aspekt ist wichtig: Die neuen Städte schöpfen ihre Kraft vor allem aus ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Deren Kreativität leistet mehr als jede Urbanisten-Planung. NGOs und andere karitative Organisationen sollten das erkennen, bevor sie aktiv werden. Sie gehen meistens von ihrer eigenen Perspektive aus, meint Neuwirth, und selten von der der Bewohner. Nicht einmal die UNO habe das geschafft.
"Das schlimmste Beispiel - unglücklicherweise - ist UN-Habitat selbst", meint Neuwirth. "Deren Hauptsitz befindet sich in Nairobi, und nicht einmal dort ist es ihnen in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, irgendetwas zu verbessern. Sie haben ein sogenanntes 'Slum Upgrading'-Programm gestartet, doch absolut nichts bewirkt. Weil sie die Bewohner nicht mit einbezogen haben, war das zum Scheitern verurteilt." Denn die Bewohner selbst haben diese Städte gebaut. Sie wissen selbst am besten, woran es mangelt, aber auch, was gut ist, in der Squatter Community. Und das muss dringend akzeptiert werden.
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Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 23. Jänner 2010, 17:05 Uhr
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