Gespiegelte Doppelgänger
Schatten abtasten
Anselm Glücks Bücher bringen Bilder und Sprache gleichermaßen ins Spiel. Indem man den sprachlichen Bildern und den Zeichnungen in seinem Buch "Schatten abtasten" folgt, erfährt man einiges vom großem Spiel zwischen Wirklichkeit und Abbild.
8. April 2017, 21:58
In Anselm Glücks neuem Buch "Schatten abtasten" finden sich hintereinander fünf Blätter mit Zeichnungen, die den Titel tragen: "Schatten abtasten". Diese Zeichnungen zeigen Hände - wenn man will: tastende Hände. Und unterhalb der Zeichnungen befinden sich Texte. Etwa:
Ich spähe zwischen den Vorhängen nach draußen, und alles geschieht vor meinen Augen. Eigentlich bin ich nur noch der Teil der Welt, vor dem alles sich abspielt, und meinem Blick kann nichts entkommen. Fortwährend fahren Worte hinterdrein, und mir in Fleisch und Blut übergegangen, fliehen die Bilder aus der Wirklichkeit in meinen gespiegelten Kopf
Spiegel lügen nicht
"Spiegel", "sich spiegeln, "gespiegelt" sind Worte, die in "Schatten abtasten" oft vorkommen. Das Gespiegelte ist vielleicht der realste aller Schatten - oder vielleicht auch nur der leuchtendste aller Schatten. Man sieht sich im Spiegel, lächelt, macht Grimassen, kommt näher und näher, tastet sich ab und weiß doch eines: Das Spiegelbild ist der strahlende Schatten meiner selbst.
Im Wort "Spiegel" versteckt sich zudem das Wort "Spiel". Was sich da abspielt, während ich meinem Spiegelbild zulächle, Grimassen schneide oder gar meinem Spiegelbild Nase, Augen, Ohren und Kopfhaar abtaste, ist ein Spiel mit dem "gespiegeltem Kopf", wie Glück schreibt. Es ist ein Spiel mit den Bildern, die wir von der Wirklichkeit haben. Und auch der Hintergrund stimmt. Drehe ich mich um, so sehe ich das, was ich auch im Spiegel sah. Der Spiegel lügt nicht, und dennoch ist er Schatten.
Der "peintre-poète"
Bei Anselm Glücks Büchern, die Bilder und Sprache gleichermaßen ins Spiel bringen, ist Aufmerksamkeit geboten. Denn Glück ist seit jeher "peintre-poète", das heißt Schreiben, Zeichnen, Malen sind bei ihm gleich-wertig. Sprachliche Bilder gehen auf ein und derselben Seite Verbindungen mit gezeichneten oder gemalten Bildern ein, beide geben so vor, ein Zeichen zu sein. In Wahrheit sind aber die Sprach-Zeichen Spiegelbilder der Zeichnungen, und umgekehrt. Das eine ist der leuchtende Schatten des anderen und beide zusammen ergeben ein Spiel mit Bildern, bei dem man die Wirklichkeit abtastet.
Das alles klingt kompliziert, ist es auch, doch zum Glück können wir alle sehen, schreiben und zeichnen. Das Spiel kann beginnen! Auf exakt 140 Seiten bringt Anselm Glück sprachliche Bilder und Zeichnungen zusammen. Er belegt jede dieser Text- und Bild-Seiten mit einer Ziffer. Doch das Blatt 137 ist zwar die letztgenannte Ziffer, steht aber ziemlich am Anfang des Buches. 136 gibt es gar nicht im Buch und auch die Nummer 1 sucht man vergeblich. Manche Text- und Bild-Seite hat sogar zwei Ziffern - und überhaupt geht alles kunterbunt durcheinander. Was soll das!, denkt man beim Lesen?! Anselm Glück gibt Antwort.
54) Du hältst in diesem Moment dieses Buch in Händen und erfährst von einem Vater, der nahm gern einen Schluck, und weil er nicht widerstehen konnte, packte ihn ein schlechtes Gewissen und eines Tages trennte er sich von seiner Frau
So ist das mit Geschichten von der Welt, wie sie ist. Aber als Schatten, den wir abtasten sollen, bedeutet es: Wir alle nehmen gerne einen Schluck Vernunft und freuen uns, dass eins plus eins zwei ergibt. Und wir freuen uns weiter, dass wir zählen können - 1, 2, 3 bis unendlich.
Schatten der Wirklichkeit
Die Logik des Zählens ist nicht immer gleich die des Erzählens und schon gar nicht die des Sehens. Denn die gespiegelte 1 in unserem "gespiegelten Kopf", wie Glück schreibt, ist sie eine 1, ergibt sie eine 2 oder erscheint sie gar als eine 11?! Also: Nehmen wir alle einen Schluck Fantasie und trennen wir uns vom einfachen Zählen und Wägen. Wobei Phantasie bei Glück keineswegs das Phantastische meint, sondern die Lust am Spiel mit Sprach-Bildern und Zeichnungen. Und in diesem Spiel lernen wir abzutasten, was eine Geschichte voll Bildern mit der Wirklichkeit zu tun hat.
70, 71) Etwas erwies sich im Näherkommen als ein Stück Natur, umrauscht von einem Ausschnitt offenen Meeres, über dem Bruchstücke von Wolken trieben, und direkt vor mir sah ich Leute, die sich an den Strand gesetzt hatten. Das Blatt, auf das ich all das schrieb, füllte sich, und im Moment sitze ich im Nachthemd am Fenster und warte auf das Tageslicht. Festgeklemmt zwischen Schatten, rühre ich mich nicht
Auf derselben Seite ist oberhalb des Textes eine menschliche Figur gezeichnet, die nach hinten blickt. Und auf der Zeichnung steht das Wort "jetzt" geschrieben. Jetzt beginnt das Sehen, Schreiben und Zeichnen. Alles aber, was man in sprachlichen Zeichen oder in Zeichnungen, Tafelbildern zum Ausdruck bringt, ist Schatten - Schatten der Wirklichkeit. Es ist eine Spiegelfechterei, die man da betreibt und doch gilt: Dieser Spiegel lügt nicht, weil er Schatten der Wirklichkeit ist.
Anselm Glück sei Dank!
Es ist seltsam: Indem man den sprachlichen Bildern und den Zeichnungen in Anselm Glücks Buch "Schatten abtasten" folgt, erfährt man nicht wenig vom großem Spiel zwischen der Wirklichkeit und dem Abbilden. Jenseits aller Theorie, ganz der Kunstpraxis hingegeben, wird man als "gespiegelter Kopf", der man ist, zum mutigen Spiegelfechter, den nichts mehr so leicht aus der Bahn wirft. Selbst dem Doppelgänger - diesem gruseligen Schattengewächs unser eigenen "Horror Picture Show" - begegnet man jetzt mit Gleichmut. Anselm Glück sei Dank!
Wenn mein Doppelgänger vor die Tür tritt, sitze ich schon im Schatten der Bäume, und er kommt von außerhalb gleichmäßig auf mich zu
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Anselm Glück, "Schatten abtasten", Jung und Jung Verlag
Link
Jung und Jung - Anselm Glück