Eine ballistische Annäherung

Mauser 7,65

Die Mauser 7,65, eine Offizierspistole, rettete meinem Vater während der Invasion in der Normandie das Leben. Somit verdanke auch ich dieser Waffe mein Leben. Doch wer waren die beiden Soldaten, die Vater mit dieser Pistole erschossen hat?

Irgendwann in den 1960er Jahren begann Vater vom Krieg zu erzählen. Beinah täglich machte er Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg zum Thema, die er wiederholte, variierte und mit neuen Ausschmückungen versah: Er erzählte von Entbehrungen und Kälte in Russland, von Zigaretten, die gegen Brot getauscht wurden, von heulenden Stalinorgeln und angsterfülltem Warten im Schützengraben, von der fast friedlichen Stimmung vor dem Sturm in der Normandie.

Wir Kinder bekamen den Krieg in Form von Gute-Nacht-Geschichten aufbereitet, aber auch mit mahnendem Unterton serviert, wenn wir etwa altes Brot verschmähten - Brot, das im Russlandfeldzug Mangelware war.

Vater, der Held

Drei Mal wurde er schwer verwundet, oft kam er knapp mit dem Leben davon: Nach dem Beginn der Invasion etwa musste er als vorgeschobener Beobachter eine Telefonleitung reparieren. Er kletterte auf den Telegrafenmasten, um eine Sicherung auszutauschen, als er von einem amerikanischen Jagdbomber attackiert wurde. Als lebende Zielscheibe hatte er sich gefühlt, als er den Mast hinunterrutschte und die Einschläge des Bordfeuers den Mast oberhalb seines Kopfes zersplitterten.

Martialisches Kultobjekt

In einer beinah feierlichen Atmosphäre, die den Charakter eines Initiationsrituals hatte, zeigte mir Vater die Waffe, die ihm das Leben gerettet hatte: eine Mauser 7,65 mit der Waffennummer 828 205. Damals war ich 13 und ich durfte die Pistole in der Hand halten, das Magazin anstecken, die Waffe sichern und entsichern.

"An dieser Waffe klebt Blut", hatte Vater gesagt, als er sie mir in die Hand drückte. Ihre Geschichte hatte sich mir wie die Szene eines Spielfilms eingeprägt: Der blutverschmierte deutsche Offizier, dem Vater die Pistole abnahm, der zerbombte Bauernhof, an dessen Brunnen er sich wusch, als er von amerikanischen Soldaten beschossen wurde, und wie er unbemerkt die Mauser aus dem Halfter zog, als sich die Soldaten dem vermeintlich Toten näherten.

Ich verdanke mein Leben einer Pistole

Der seltsame Gedanke, dass ich mein Leben einer Pistole verdanke, begleitete mich seit meiner Kindheit. Immer wieder - wenn ich etwa Amerikaner kennen lernte - stellte ich mir vor, sie könnten mit den Soldaten verwandt sein, die Vater in der Normandie getötet hat.

Als Vater stirbt und Mutter in seinem Nachtkästchen ein kleines Munitionsdepot entdeckt, lässt mich die Geschichte der mysteriösen Waffe nicht mehr los. Treibstoff auf die Glut, die rund um diese Pistole schwelt, ist ein seltsames Erlebnis, das ich kurz vor Vaters Tod hatte und das sämtliche Geschichten, die er vom Krieg erzählte, infrage stellt: Stammte die große Narbe an Vaters Brust wirklich von einem Flammenwerfer? War er als Soldat in Stalingrad im Einsatz? Sind die beiden getöteten Soldaten eine Erfindung?

Nadel im Heuhaufen

Die Nachforschungen nach Vaters Kriegsvergangenheit sind mühsam und aufwändig. Aufschlussreich ist lediglich die Benachrichtigung der Deutschen Dienststelle Berlin: Diensteintrittsdatum, Truppenteile, Dienstgrade, Verwundungen und Lazarettaufenthalte geben in militärisch knappem Ton wieder, worüber Vater in langen Ausschmückungen erzählt hatte.

Die Annäherung an die getöteten Soldaten führt über die Einheit, in der Vater gekämpft hat: Wenn man weiß, wo er in der Normandie im Einsatz war, kann man die amerikanischen Truppen eruieren, die der Wehrmacht gegenüberstanden.

Laut Wehrmachtsauskunftsstelle war Vater der 352. Infanteriedivision unterstellt. Es ist jene Einheit, die am berüchtigten "Omaha Beach" in der Normandie aufgestellt war, wo amerikanische Truppen am 6. Juni 1944 landeten - es ist jener Strandabschnitt an der Calvadosküste, mit dem Steven Spielberg seinen Film "Der Soldat Ryan" begann.

Mehr als 10.000 US-Soldaten starben in den ersten Invasionstagen in diesem Kriegsabschnitt. Zwei davon waren meinem Vater begegnet.