Beispiel eines Mythos'
Mentalitäten in Ost und West
Unterschiedliche Mentalitäten müssen in einem globalisierten Europa stärker berücksichtigt werden, um Konflikten innerhalb einer mulikulturellen Gesellschaft besser begegnen zu können. Aber lassen sich Mentalitäten wissenschaftlich erfassen?
8. April 2017, 21:58
Berufsgruppen wie Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Pädagogen werden von der multikulturellen Gesellschaft vor neue Herausforderungen gestellt: Sie sollen Menschen psychosoziale Unterstützung bieten, deren kulturelle und soziale Prägung ihnen häufig nicht vertraut ist und sie begegnen Phänomenen, die in einem westlich geprägten rationalen Weltbild zuweilen längst an Gültigkeit verloren haben, während sie für die, die ihnen gegenüber sitzen, real sind: Flüche etwa oder der böse Blick, sowie fremde Sitten und Gebräuche des sozialen Umgangs, der Ehrenkodex etwa oder schlicht ein anderes Verständnis von Geschlechterrollen.
Da wird der Umgang des multikulturellen Miteinanders zuweilen auf eine harte Probe gestellt: Verständnis und Einfühlungsvermögen für das Unbekannte ist gefragt, zuallererst einmal aber muss zur Kenntnis genommen werden, was dessen Wesen ist.
Individualistisches Menschenbild vs. Kollektivismus
Bernd Rieken ist Ethnologe und Psychotherapeut, er lehrt an der Sigmund-Freud-Universität in Wien und weiß aus eigener Erfahrung aus der Praxis mit Klienten aus Osteuropa, dass dort je nach Herkunftsregion das magische Weltbild, vor allem aber Familie und die Zugehörigkeit zu einem Gemeinschaftsverband eine viel größere Rolle spielen als hierzulande.
Die Psychotherapie ist in Westeuropa erfunden worden, sagt er, und ihr Konzept einem individualistischen Menschenbild geschuldet, das mit der Aufklärung entstanden ist. In Osteuropa hingegen ist der Kollektivismus viel tiefer verankert, und der Marxismus hat mit dem Ideal der sozialistischen Gemeinschaft davon Gebrauch gemacht.
Um Karl Marx zu zitieren: "Das Sein bestimmt das Bewusstsein" - die Umgebung hat Einfluss auf den Einzelnen. Das macht auch die höhere Toleranzgrenze dieser Gesellschaft für Aberglaube plausibel: Diesem Verständnis nach ist der Mensch kein abgegrenztes Individuum, sondern ein offenes System, das Einflüssen von außen ausgesetzt ist, etwa der Kraft von Dämonen, gegen die man sich schützen muss. Das eröffnet den Bedarf für ein überaus wichtiges Forschungsfeld: die Mentalitätsforschung.
Die Mentalitätsforschung
Das Gebiet ist nicht neu, wenn auch überholungsbedürftig und in dieser Gestalt ein junger Zweig der Kulturwissenschaften: In der älteren Volkskunde wurde der "Volkscharakter" erforscht, mit dem die moderne Industriegesellschaft nicht mehr beschrieben werden kann, abgesehen davon birgt er die Gefahr von Klischeevorstellungen.
Mentalität ist ein weicher Begriff, ob es sie gibt und worin sie besteht, darüber wird zuweilen heftig gestritten, selbst unter Wissenschaftlern. Zum Beispiel über einen osteuropäischen Mythos: die russische Seele. Der Begriff stammt aus der Zeit des "Volkscharakters", aus dem 19. Jahrhundert, in Russland hat er aber immer noch Konjunktur.
Gibt es die russische Mentalität?
Sind die Russen tatsächlich großzügig und leidensfähig, aber auch zügellos und faul? Zwar sind sich russische Sozialwissenschaftler nicht einig darüber, ob es möglich ist, eine wissenschaftliche Grundlage für diese Klischees zu finden, aber Psychologen betonen, dass es überaus wichtig sei, die jeweilige Mentalität bei psychischer Unterstützung zu berücksichtigen und adäquate Methoden zu entwickeln, die der kulturellen Herkunft gerecht werden.
Zum Beispiel Albina Colden: Sie lehrt an der Sigmund-Freud-Universität und ist als Kind russischer Emigranten in den USA aufgewachsen, sie kennt beide Kulturen. In Pennsylvania hat sie eine Studie über Mentalität mit begleitet, in der nachgewiesen wurde, dass der amerikanische und der russische Traum von "Glück" erstaunlicherweise recht unterschiedlich ist. Die russische Seele, meint sie allerdings, die werde es geben, solange es den Menschen Freude macht, diesen Mythos zu pflegen.
Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 10. August 2009, 19:05 Uhr