Der Erneuerer der Volkskunde Hermann Bausinger

Heimat, ohne falschen Klang

Viele sind aus seiner "Schule" gekommen, Umgestaltung und Neubeginn eines ganzen Fachs sind mit seinem Namen verbunden: Hermann Bausinger, Germanist und Kulturwissenschafter, Märchen- und Dialektforscher, Vortragender und Autor.

Er erinnere sich an sein Elternhaus als ein "unproblematisches Biotop", sagt Hermann Bausinger - auch aus heutiger Sicht, im Vergleich zu den Problemen, die es in vielen Familien gebe und wie auch er sie mit seinen Kindern zum Teil erlebt habe. "Es gab nie irgendwelche Probleme", erinnert er sich. "Und ich bring' das teilweise auch damit in Zusammenhang - das ist jetzt eine sehr heikle und gefährliche Äußerung - dass man doch sehr stark eingebunden war in diese Jugendorganisationen."

Diese Jugendorganisationen, das waren die der Nationalsozialisten. Hermann Bausinger war sechs Jahre alt, als sie in Deutschland die Macht ergriffen, seine Schulzeit und Jugend hat er im Nationalsozialismus verbracht. Wie war er, wie war seine Familie dazu eingestellt?

"Mein Vater war also Bankbeamter und meine Mutter war eine Wirts- und Arbeitertochter; beide waren sehr bürgerlich gesinnt, und mein Vater hatte früher immer Deutsche Volkspartei gewählt, also eine nationale Partei. Diese nationale Ausrichtung war sehr deutlich, es gab aber eine gewisse Distanz gegenüber den Nationalsozialisten - was übrigens nicht ungewöhnlich war."

Studium der Germanistik

Die Berater vom Arbeitsamt geben den Schulabgängern in den Nachkriegsjahren denselben Rat: Wählt ein Handwerk, werdet Maurer. Studieren ist eine Sackgasse. "Ich weiß nicht, was geworden wäre, wenn ich nicht in der Nachbarschaft einen Rechtsanwalt gekannt hätte", so Bausinger. Der sagte zu mir, ach, das ist doch alles Quatsch, natürlich studieren Sie, fahren Sie nach Tübingen, hören Sie sich um, was Sie interessiert, und dann wählen Sie das Fach, und wenn Ihnen das Fach Spaß macht, dann wird da auch was draus."

Hermann Bausinger entscheidet sich für Germanistik, sowie im Nebenfach Anglistik, Geschichte und Philosophie. Der Zufall bringt ihn in ein Seminar über Märchen am Institut für Volkskunde, damals der Germanistik zugeordnet. "Das war das erste Mal, dass ich mit meiner Mutter über ein Thema meines Studiums gesprochen habe", erinnert sich Bausinger. "Ich konnte mit ihr darüber reden und hab' sie gefragt, war das in deiner Heimat auch so - und sie begann dann zu erzählen. Das ist für mich auch ein ganz wichtiges Motiv geblieben all die Jahre. Dann hat sich aber sehr schnell ein zweites Motiv herausgebildet, das geradezu konträr dazu war, dass ich mich nämlich geärgert hab' über die Volkskundler, auch über die Dozenten, die das vermittelt haben, weil die relativ naiv mit diesen Dingen umgegangen sind und gewissermaßen davon ausgegangen sind, dass die Leute heute noch draußen im Dorf unterm Lindenbaum sitzen und sich gegenseitig Märchen erzählen und Volkslieder singen und ich wusste ja aus der eigenen Erfahrung, dass das einfach nicht wahr ist."

Volk oder Bevölkerung

Mit seiner Habilitationsschrift Anfang der 1960er Jahre fordert Bausinger sein Fach heraus. Provokant beginnt er mit einem Zitat von Bertolt Brecht: "Wer statt Volk Bevölkerung sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht". "Ich meine, schließlich war ja die Rede von Volkslied, und Volkssage und Volksmärchen", sagt Bausingr, "und mit diesem Volk hat man doch bestimmte Assoziationen verknüpft, und ich hatte den Eindruck, dass man da ansetzen muss, und dass man sich damit auseinandersetzen muss."

Die Volkskunde seiner Anfangszeit war in einer paradoxen Situation gefangen, sagt Hermann Bausinger: Auf der einen Seite war man überzeugt, dass bestimmte Volksbräuche und Traditionen zeitlos waren, dass es sie "schon immer" so gegeben habe. Andererseits suchte man, als ob man der eigenen Überzeugung nicht ganz trauen konnte, nach möglichst alten Belegen dafür.

Die neuere Forschung hat klar gezeigt, wie sehr und wie schnell sich vermeintlich immer gleiche Traditionen ändern können. Hermann Bausinger hat es selbst an vielen Beispielen gezeigt: So kamen viele, wie man dachte, urdeutsche, Volksmärchen aus Frankreich... Der vermeintlich uralte Adventkranz wurde erst im 19. Jahrhundert erfunden und in vielen Gegenden erst im 20. Jahrhundert eingeführt.

Frischer Wind

Mehr als drei Jahrzehnte lang, von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1992, leitet Hermann Bausinger an der Universität Tübingen das Ludwig-Uhland-Institut für Volkskunde, in seiner Zeit umbenannt in "Institut für empirische Kulturwissenschaft". In diesen Jahrzehnten weht ein frischer Wind durch eine davor verstaubte Disziplin. Vieles wird in Tübingen erstmals zum Forschungsgegenstand: die Berg- oder Arztromane der Trivialliteratur, die ersten Familienserien im Fernsehen, noch lange vor der "Lindenstraße". Die gesamte Alltagskultur der Gegenwart kann zum Gegenstand der Betrachtung werden.

Die Fremdenverkehrsgebiete wären immer schon volkskundlich interessant gewesen, so Bausinger, "weil das meistens Gebiete waren abseits des großen Verkehrs, wo sich Trachten und Fronleichnamsprozessionen und alle möglichen Dinge erhalten hatten. Uns hat interessiert, was verändert der Fremdenverkehr. Mit der doppelten Fragestellung: Was sind die Touristen eigentlich für merkwürdige Lebewesen, was suchen die dort, wie erleben die das, und warum gehen sie dorthin? Und auf der anderen Seite, und das war uns eigentlich das Wichtigere: Wie verändert sich eine Region, oder ein Ort durch den Zustrom von Fremden?"

Aufklärer des Alltags

Normalerweise wird man als Volkskundler immer gleich ins Museum geführt, lächelt Hermann Bausinger. Er ziehe aber viel lieber durch die Straßen, schaue sich um und lasse sich von den Leuten erzählen. "Mich interessiert, was ist los, was bewegt sich in einem Ort, wie stehen die Leute zueinander, wie reden sie zueinander, welche Art der Kommunikation gibt es?", so Bausinger.

"Ein Aufklärer des Alltags", so nannten ehemalige Schüler und Schülerinnen ein Buch mit und über Hermann Bausinger zu dessen 80. Geburtstag vor drei Jahren. Bausingers Alltags-Betrachtungen, seine "Tübinger Schule" sind zum Begriff geworden. Ehemalige "Tübinger" besetzen heute (Universitäts-)Lehrstühle im ganzen deutschen Sprachraum: Konrad Köstlin, der langjährige Ordinarius für Volkskunde in Wien, ist einer von vielen, die in Tübingen studiert haben.

Heimat, das sind die Menschen

Fast zwangsläufig kommt das Gespräch auf einen Begriff, zu dem es von der Volkskunde nicht weit scheint, ein Wort mit, wie man meint, ganz besonderem Klang im Deutschen: Heimat. Ein Wort, mit dem sich sowohl Sehnsucht wie auch Bedrohung verbindet. Was ist für Hermann Bausinger Heimat? "Man verbindet mit Heimat nach wie vor den einen Bezugspunkt, den man hat, und das trifft so nicht mehr zu." Letztlich seien es aber die Menschen, die für ihn Heimat ausmachen.

Hör-Tipp
Menschenbilder, Sonntag, 9. August 2009, 14:05 Uhr

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