Interview mit Shirin Neshat - Teil 1

"Frauen im Iran waren immer politisch aktiv"

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Die iranische Videokünstlerin Shirin Neshat hat nach jahrelanger aufreibender Arbeit ihre Literatur-Verfilmung "Women Without Men" fertiggestellt und wurde damit in den Wettbewerb der 66. Filmfestspiele von Venedig eingeladen.

Wer den von der Wiener Firma coop99 koproduzierten Film vor dem ersten Pressescreening am Dienstag, 8. September 2009 zu sehen bekam, durfte sich glücklich schätzen, denn der enigmatische, harte und politische Beitrag dürfte sich zu den Favoriten für den Goldenen Löwen gesellen.

Mit der APA sprachen Neshat sowie ihr Mann und Mitarbeiter Shoja Azari über die schwierigen Dreharbeiten und die "Zeitbombe" Teheran.

APA: Sie haben sechs Jahre lang an dem Film gearbeitet. Was war denn die ursprüngliche Intention - ein Film über Frauen im Iran oder mehr ein Abriss über die komplexe historische Situation?

Neshat: Ich komme ja eigentlich aus der visuellen Kunst, und meine Arbeit war immer zum einen Teil auf die Situation von Frauen und zum anderen Teil auf die Situation meines Landes konzentriert. Was immer ich auch tat, war untrennbar mit den realen Gegebenheiten verbunden. Ich glaube, für die meisten Iraner ist es unmöglich, über etwas ohne einen Bezug zur aktuellen politischen Lage zu sprechen. Als ich das Buch "Women Without Men" las, ging es zum Großteil über Frauen und höchstens zu zwei Prozent über den Iran. Aber wir haben gemeinsam beschlossen, den politischen Part der Geschichte auszuweiten - und nun geht es genauso sehr um Frauen wie um das Land, beide auf der Suche nach Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit.

Wir sehen im Film vier Frauen, die alle einen einen bestimmten ökonomischen Stand repräsentieren. Geht es hier um eine Allgemeingültigkeit, um ein Sich-Wiedererkennen?

Azari: Die Frauen kommen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, aus verschiedenen Klassen. Und wenn man sich die Situation der Frauen im Land ansieht, lässt sich das soziale Dilemma und die Komplexität viel leichter herunterbrechen, denn sie leiden am meisten unter der gesellschaftlichen und politischen Unterdrückung und Repression. Die Frauen im Film kommen aus unterschiedlichen Klassen zu jener Zeit, und anhand ihrer Situation zeigen wir die damalige politische Dynamik.

Neshat: Wir haben eine reiche Frau, die künstlerisch interessiert und am Westen orientiert ist, wir haben eine Prostituierte, eine Frau aus der traditionellen religiösen Mittelschicht - das war für mich sehr wichtig, diese offene gesellschaftliche Diversität von damals zu zeigen. Die gab es dann nicht mehr, es herrschte ein religiöser Konformitätszwang, dem sich alle unterwerfen mussten.

Azari: Und man kann das bis heute fortsetzen: Wenn man sich die Situation ansieht, gibt es zahlreiche Parallelen, die Geschichte wiederholt sich, dieser Kampf für Freiheit, dieses Streben nach Frieden. Und es ist interessant zu sehen, wie viele Frauen heute auf die Straße gehen und sich an den Bemühungen beteiligen - und wenn man zurückblickt, war das damals sehr ähnlich. Frauen waren immer sehr aktiv im politischen Leben im Iran, trotz der westlichen Sicht, dass Frauen immer unterdrückt waren.

Auch wenn der Film in der Geschichte rund um den gewaltsamen Sturz des demokratisch gewählten Premier Mossadegh angesiedelt ist, hat man selten das Gefühl, einen historischen Film zu sehen. Vielmehr wirkt alles sehr aktuell.

Neshat: Die Handlung spielt im August 1953, und die Radionachrichten von damals geben einen ziemlich guten Eindruck über die realen Hintergründe, wenn die Armee gegen die Demonstranten vorgeht. Unser Film sollte aber nicht dokumentarisch sein, das wäre in die falsche Richtung gegangen. Es ging uns mehr um die symbolische Ebene als um ein spezifisches Datum.

Die Massenszenen, etwa die getrennten Demonstrationen von Frauen und Männern, die quasi ineinanderfließen, wirken sehr stark nach - einerseits ästhetisch und andererseits vom Aspekt der Geschlechtertrennung.

Neshat: In meinen Videoarbeiten ist der Gender-Aspekt, die Trennung von Frauen und Männer, immer sehr wichtig gewesen, auch wenn diese abstrakter waren. Wir versuchten nun in diesem Film teilweise, auch wenn er sehr narrativ ist, die Sprache der visuellen Kunst in den Spielfilm zu übersetzen. Einerseits wird also gezeigt, dass Frauen und Männer zu gleichen Maßen an politischem Aktivismus beteiligt waren, andererseits behandelten wir die Demonstrationen wie einen Tanz, wie in einem experimentellen Film. Wir mochten vor allem die Vogelperspektive, wenn man die weiß gekleideten und die schwarz gekleideten Menschen und die khakibraunen Armisten aufeinanderprallen sieht. Das wurde sehr genau choreographiert und orchestriert.