Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan
Ich erhebe meine Stimme
Die in jüngster Zeit verstärkten Angriffe der Taliban und die Korruption des Regimes lassen wenig Hoffnung auf baldigen Frieden in Afghanistan zu. In ihrem Buch beschreibt Malalai Joya die jüngste Geschichte Afghanistans und ihren eigenen Lebensweg.
8. April 2017, 21:58
Zwei Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes trat im Dezember 2003 in der afghanischen Hauptstadt Kabul eine neue Loya Jirga zusammen. 502 Abgeordnete, darunter 114 Frauen, waren in diese Versammlung gewählt worden, die über die neue Verfassung und die Zukunft Afghanistans bestimmen sollte. Unter den Frauen befand sich auch die damals erst 25-jährige Malalai Joya.
Als Sozialarbeiterin hatte sie sich bereits unter der Herrschaft der Taliban für ein anderes, humaneres Afghanistan engagiert und dabei beträchtliche Risiken auf sich genommen. Voll Idealismus hatte sie sich an den Wahlen für die Loya Jirga beteiligt und gewonnen. Doch sie war entsetzt, als sie die Zusammensetzung dieser bedeutenden Versammlung sah: Da saßen alle großen Warlords, die sich in der Vergangenheit großer Verbrechen gegen die afghanischen Bürger schuldig gemacht hatten und die in den Augen von Malalai Joya nicht besser als die Taliban waren. Malalai Joya wollte nicht schweigen, und schließlich gelang es ihr, eine dreiminütige Redezeit zu erhalten.
Die Wahrheit sagen
Wie war es möglich, dass Verbrecher in der Loya Jirga saßen? Männer, die das Land in den Bürgerkrieg gestürzt hatten, Männer, die bekannt waren für ihre Frauenfeindlichkeit? Vor Gericht sollten sie gestellt werden, forderte Malalai Joya. Einige applaudierten, doch nach 90 Sekunden schaltete der Vorsitzende das Mikrofon ab. Ein Tumult brach aus.
Ich hatte gar keine andere Wahl gehabt, als die Wahrheit zu sagen. Es lag mir nichts am Ruhm oder der Anerkennung, ich musste meine Stimme erheben. Das war meine Pflicht und meine Verantwortung gegenüber den Menschen, die mir ihr Vertrauen geschenkt hatten. Ich hatte ihnen versprochen, dass ich mit den Feinden der Menschenrechte niemals Kompromisse eingehen würde. Eines meiner Lieblingszitate stammt von Bertolt Brecht, der Galilei sagen lässt: "Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher."
Unterstützung der Familie
Woher aber nimmt eine junge Frau, die wegen der Kriegswirren in Afghanistan in Flüchtlingslagern im Iran und in Pakistan aufgewachsen ist, diesen Mut? Wie kam sie zu ihrer Bildung und dazu, Brecht und andere Größen der Weltliteratur zitieren zu können? In ihrem Buch "Ich erhebe meine Stimme" schildert Malalai Joya ihre eigene Entwicklung und die Unterstützung, die sie stets von ihrer Familie erhalten hat.
Die meisten Lager rund um Peshawar wurden von fundamentalistischen Parteien kontrolliert. (...) Trotz dieser schwierigen Bedingungen hatten meine Eltern für uns eine Schule mit fortschrittlichen Lehrkräften gefunden, Jungen und Mädchen saßen zwar in getrennten Klassen, wurden aber nach demselben Lehrplan unterrichtet. Einige afghanische Eltern ließen ihre Töchter nicht am Sport teilnehmen, weil er nur für Jungen als schicklich galt. Meine hatten aber nichts dagegen.
Schon als Teenager begann Malalai Joya selbst in den Flüchtlingslagern zu unterrichten, insbesondere auch Frauen, die nie zuvor die Chance auf Bildung gehabt hatten. Sobald ihre Familie nach Afghanistan zurückkehrte, unterrichtete sie weiter – zur Zeit der Taliban von 1996 bis 2001 eben in Untergrundschulen.
Abends blieben mein Vater und ich noch auf und schlugen im Licht der Propangaslampe die Schulbücher auf. Er half mir den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten.
Die jüngste Politikerin Afghanistans
Der Einstieg in die Politik war für Malalai Joya nur eine logische Folge ihres Engagements im Bildungs- und später auch im Sozialbereich. Trotz ihrer Erfahrung mit der Loya Jirga beschloss sie, 2005 bei den Parlamentswahlen zu kandidieren - sie zog als jüngste Politikerin Afghanistans ins Parlament ein.
2007 wurde sie wegen ihrer unnachgiebigen Kritik an den zahllosen Missständen aus dem Parlament ausgeschlossen. Seither setzt sie ihren Kampf außerhalb des Parlaments fort. Mit ihrem Buch will sie insbesondere auch viele westliche Missverständnisse über Afghanistan aufklären.
Die Afghanen werden in den Medien mitunter als rückständiges Volk dargestellt, das ausschließlich aus Terroristen, Kriminellen und ihren Spießgesellen besteht. Dieses falsche Bild ist sowohl für die Zukunft meines Landes wie für den Westen äußerst gefährlich. Die Wahrheit ist, dass die Afghanen ein tapferes und freiheitsliebendes Volk mit einer reichen Kultur und einer stolzen Geschichte sind. Wir sind fähig, unsere Unabhängigkeit zu verteidigen, uns selbst zu regieren und unsere eigene Zukunft zu bestimmen.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Malalai Joya, "Ich erhebe meine Stimme. Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan", aus dem Englischen übersetzt von Dagmar Mallett, Piper Verlag