Die Bevölkerung von Guadeloupe

Ihr da oben, wir da unten

7.000 Kilometer westlich der Küsten des französischen Festlandes liegt die zu Frankreich gehörende Inselgruppe Guadeloupe. Seit ihrer Entdeckung durch Christoph Columbus hat Guadeloupe eine eher traurige Geschichte hinter sich.

"Die Geschichte Guadeloupes beginnt keineswegs mit der Entdeckung von Christoph Columbus." Diese Ansicht vertritt Raymond Boutin, einer der führenden Historiker und Demographen des Landes. Es waren die Arawaks und Kariben, die lange vorher die Inseln bewohnten. Allerdings sind manche Entwicklungen auf dem Archipel immer noch als eine Folge der europäischen Einflüsse - negativen wie positiven - zu sehen.

Zusammen mit Martinique bildet Guadeloupe die Französischen Antillen. Nach vielen Jahrhunderten als Kolonie ist die Insel ein französisches Überseedepartement, das heißt sie ist voll integrierter Teil des französischen Staates und damit auch ein Teil der Europäischen Union. Dennoch fühlt sie sich sehr unabhängig und sehr karibisch, mit eigener Kultur und Sprache. Die Entwicklung zu diesem Selbstbewusstsein, das auch in dem Erfolg des Generalstreiks im März 2009 deutlich wurde, kann man aus der ferneren und jüngeren Inselgeschichte ableiten.

Meltingpot der Kulturen

Mehr als 90 Prozent der Guadeloupianer sind Nachfahren afrikanischer Sklaven oder Mischlinge, etwa fünf Prozent sind Weiße, der Rest Inder, Libanesen und Chinesen. Die Bevölkerung ist übrigens ziemlich jung: Ein Drittel ist jünger als 20 Jahre, 60 Prozent haben das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht und nur 13 Prozent sind älter als 60 Jahre.

Die Arbeitslosenrate von etwa 22 Prozent ist die höchste in der Europäischen Union und die gewaltigen Einkommensunterschiede zwischen den Antillen-Bewohnern und den Festland-Franzosen sorgten schon seit Jahren für gewissen Unmut, der im Frühjahr 2009 zu Protesten, Demonstrationen und schließlich zum Generalstreik führten.

Die Aggression richtete sich hauptsächlich gegen die so genannten "béké", jene weißen Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren, in deren Händen sich die Supermärkte Carrefour und die Rumproduktionen befinden. Wegen der teilweise gewaltsamen Ausschreitungen blieben viele Urlauber aus. Der französische Tourismus-Staatssekretär Hervé Novelli schätzte die Einbuße im Tourismus auf mehr als zehn Millionen Euro.

Karibisches Durchhaus

"Um die Hintergründe der aktuellen Ereignisse zu verstehen, ist es immer gut, über die historischen Zusammenhänge Kenntnis zu erhalten." Der Historiker Raymond Boutin verfasste einige Standardwerke über die Bevölkerungsentwicklung Guadeloupes und half 1998 mit, das Musée de la Vie d'Antan in der Ortschaft Petit Canal aufzubauen.

Zuletzt war eine Ausstellung über das Transportwesen auf der Insel zu sehen. Vom Handkarren bis zum Schienenstrang. Fotos, Karten und Schaustücke dokumentierten ein Stück Alltagskultur. Einst hatten die großen Zuckerfabriken ihre eigenen Eisenbahnstrecken um das Zuckerrohr heranzuschaffen. Heute sind diese Bahnlinien längst stillgelegt, hin und wieder sieht man auf Grande-Terre zwischen den weiten Zuckerrohrfeldern noch verrostete, von Gras überwachsene, im Nichts endende Schienen.

Versklavte Ureinwohner

Die großen LKWs haben den Transport übernommen, meint der Historiker mit dem schlohweißen Haar. Er selbst stamme von afrikanischen Sklaven ab, erzählt er. Nachfahren der Arawaks oder Kariben gebe es kaum mehr, dafür haben schon einst Christoph Columbus und die europäischen Einwanderer gesorgt.

Raymond Boutin meint, dass die Ankunft von Christoph Columbus eine Katastrophe für die Ureinwohner in zweierlei Hinsicht war: "Durch die Europäer kamen viele Krankheiten hierher, die den Ureinwohnern nicht bekannt waren und die Sterblichkeitsrate erhöhte. Was Columbus eigentlich suchte, war Gold, und um dieses zu schürfen, brauchte man Sklaven. So wurden viele Ureinwohner versklavt und in die diversen Kolonien verschickt. Das hatte wieder eine Dezimierung der Kariben zur Folge. Ja, es war eine Katastrophe!"

Guadeloupe wurde im Lauf der Jahrhunderte, wie viele andere karibische Inseln, zu einem Durchhaus: Spanier, Franzosen, Briten - sie alle wollten zunächst vom Kaffee-, später vom Zuckeranbau profitieren. Um die Arbeit zu bewältigen, wurden zur Zeit von Ludwig XIII. und seinem Premierminister Richelieu zunächst Europäer angeworben. Für die freie Überfahrt ins "gelobte Land" verpflichteten sich die Weißen, für 36 Monate auf den Plantagen zu arbeiten und diese nicht zu verlassen. Die Arbeitsbedingungen dieser "temporären" Sklaven waren ziemlich hart. Sie waren während der drei Jahre vom Maitre de Case abhängig, danach aber konnten sie gehen, wohin sie wollten.

Bitterer Zucker

Der Zuckerhandel florierte und immer mehr Arbeitskräfte waren nötig, Sklaven auf den Plantagen einzusetzen wurde salonfähig. Sukzessive wurden Menschen aus Afrika in die Zuckerkolonie gebracht, erklärt der Historiker Raymond Boutin.

Die Sklaven waren in unterschiedliche Kategorien eingeteilt: Während es manche als "Haussklaven" relativ gut getroffen hatten, krepierten andere beinahe bei der Plackerei auf den Zuckerrohrfeldern. Menschenwürdig war ihr Dasein keinesfalls.

Zweimal wurde auf Guadeloupe die Sklaverei abgeschafft: zunächst 1789 im Zuge der Französischen Revolution. Als Napoleon an die Macht kam, führte er die Sklaverei wieder ein, bis sie dann 1848 tatsächlich ein Ende fand.

Dadurch entstanden neue Probleme. Die ehemaligen Sklaven waren mit einem Schlag Bürger geworden und hatten das Wahlrecht - zu einer Zeit, in der Frauen noch nicht wählen durften. Außerdem fehlten plötzlich Arbeitskräfte, also wurden Kontraktarbeiter aus dem Westen Frankreichs, aus der Normandie, aber auch aus dem Elsass angeheuert. Diese Arbeiter kamen aber mit dem Klima nicht zurecht, also warb man Arbeiter aus Madeira an und schließlich aus Indien.

Diese prägten ebenso wie die Afrikaner und Europäer vor ihnen die Alltagskultur der Insel: Ihnen zum Beispiel ist zu verdanken, dass Colombo, ein Reisgericht, ein fester Bestanteil der Inselküche geworden ist, so wie Boudin, die Blutwurst, die aus Frankreich stammt. Raymond Boutin: "Es besteht hier eine Fähigkeit, die Dinge zu transformieren. Wir haben alles, was unsere Vorfahren aus anderen Regionen mitgebracht haben, uns zu eigen gemacht. Das schließlich ist unser Genie."

Verdrängte Vergangenheit

"Alles, was hier auf den Antillen geschieht, ist eine Folge des Kolonialismus. Allerdings will niemand das Wort 'Kolonie' benützen. Dennoch werden wir immer noch wie eine Kolonie behandelt", meint die Autorin Michelle Gargar, die die Vergangenheit erforscht, um sie mit der Gegenwart in Beziehung bringen zu können. Heute lebt sie in der Gemeinde St. Anne auf Grande-Terre, in einer idyllisch ländlichen Umgebung.

Viele Jahre hat sie in der "metropole" - in Paris - verbracht, dort gearbeitet und so manche Ungerechtigkeit erduldet. Als junge Lehrerin mit afrikanischen Wurzeln war sie gemeinsam mit einer weißen Französin auf Wohnungssuche. Während ihre Freundin von der entsprechenden Behörde relativ schnell eine gute Bleibe im Zentrum ermöglich wurde, sollte sich die Guadeloupianerin Michelle Gargar in den Außenbezirken niederlassen: "Das war die Politik der Franzosen: Alle, die keine weiße Hautfarbe hatten, wurden in die Banlieus abgeschoben. Heute sind das jene Gegenden in Paris, wo Aufstände an der Tagesordnung sind, wo die Jungen unzufrieden sind und Autos in Brand gesteckt werden. So hat man damals schon die Probleme von heute kreiert!"

Laboratorium der Menschheit

Auch die aktuellen sozialen Probleme auf der beliebten Urlauberinsel Guadeloupe sind in gewisser Weise ein Resultat des Kolonialismus, davon ist Michelle Gargar überzeugt. Sie hat etliche Romane, Kurzgeschichten und Erzählungen verfasst, die sich mit der Zeit der Sklaverei und dem etwas in Schieflage befindlichen Verhältnis zwischen Frankreich und seiner ehemaligen Kolonie auseinandersetzen.

Im Jahr 2000 erschien ihr Roman "Bonjour foulards, Bonjour madras", die Geschichte von zwei jungen Frauen. Die eine, Afrikanerin, wird zur Zeit der Sklaverei auf eine Insel verschleppt, die andere, eine Antillen-Bewohnerin, versucht in den 1990er Jahren ihr Glück in Frankreich - und erlebt eine moderne Art der Sklaverei.

Erst im neuen Jahrtausend - so Michelle Gargar - hat man auch von offizieller Seite begonnen, sich ernsthaft mit der Sklavenzeit auseinander zu setzen. Zuvor wollte man diesen Aspekt der Vergangenheit am liebsten retouchieren. Nach und nach rückt der Reichtum der Insel ins Bewusstsein: "Guadeloupe ist ein Melting-pot - wie auch unsere Sprache! Überhaupt: Die Antillen sind ein Laboratorium der Menschheit. Eigentlich könnten die anderen von uns lernen, wie man zusammenlebt. Wir könnten den anderen beibringen, eine kulturelle Melange zu leben."