Der Aussteiger

Der Argentinier

Von einem Schweizer, der in Argentinien die Weite sucht, Gaucho wird und den Tango lernt, ehe er als Dorfschulmeister in die Heimat zurückkehrt, erzählt der Schweizer Autor Klaus Merz in seiner Novelle "Der Argentinier".

Hier Alphorn und Jodlerchor, dort Bandoneon und Tango, hier enge Alpentäler, dort die endlose Pampa, hier die Sennerin, dort der Gaucho. Vielleicht ist es ja unfair, touristische Klischees einfach so gegenüberzustellen – macht man es dennoch, wird offenbar, dass Argentinien so ziemlich genau das Gegenteil der Schweiz darstellt.

Weg von der "auf Grund gelaufenen Welt"

Den nicht einmal einhundert Seiten starken Text könnte man auch als Entwicklungsromankonzentrat bezeichnen, klassisch novellenhaft mit Hilfe einer etwas umständlichen Rahmenhandlung erzählt.

Bei einem Klassentreffen begegnet der Ich-Erzähler seiner ehemaligen Mitschülerin Lena, deren Großvater wenige Tage zuvor gestorben ist. Während die Klassenkameraden ausgelassen das Wiedersehen feiern, sitzen Lena und der Erzähler an einem Extratisch und breiten das ungewöhnliche Leben dieses Großvaters vor sich aus, den alle nur den "Argentinier" nannten.

Als junger Mann verlässt dieser unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die "auf Grund gelaufene" alte Welt und schifft sich nach Argentinien ein, wo er Gaucho wird, ein berittener Rinderhirt. Allerdings nur kurze Zeit:

Zwei Jahre später wendete Großvater sein Pferd und kehrte aus den Pampas nach Buenos Aires zurück. Er verkaufte seinen Sattel, die Sporen, Bola und Zaumzeug an einen Neuankömmling aus Niederösterreich. Das lange Messer, das zu jedem Gaucho gehört, brachte er in Zeitungspapier eingewickelt im Reisegepäck mit nach Hause. Es verschwand später in Großmutters Besteckschublade.

Der beste Tango

Die Beweggründe für diese Wende kennt niemand so genau, und auch von der heftigen Liebesgeschichte in Buenos Aires, die ihr Großvater vor seiner endgültigen Heimkehr erlebt, erfährt Lena erst nach seinem Tod. Diese weit zurückliegende Affäre erklärt, warum er, dem seit jener Zeit in Buenos Aires der Ruf des begnadeten Tangotänzers anhaftet, nach seiner Rückkehr jeden Tanz konsequent verweigert.

Nur ein einziges Mal stellt er seine Meisterschaft unter Beweis: Bei der Hochzeit seiner Enkelin, als sie ihn zum Tanzen auffordert. Mühelos und ohne es zu wollen sticht der alte Mann bei dieser Gelegenheit den Bräutigam aus - als Tänzer wie auch als Persönlichkeit. Für die Braut wird der Tanz zum Menetekel für das baldige Scheitern der jungen Ehe.

Andere Regeln

Die Szene hat Symbolcharakter und ist symptomatisch für Klaus Merz' Novelle. Der Argentinier, der einst seinen Traum von Weite und Freiheit bedingungslos ausgelebt hat, ist noch als Greis den jungen Männern der Gegenwart an Männlichkeit haushoch überlegen. Ein Zitat des britischen Schriftstellers L. P. Hartley ist der Novelle als Motto vorangestellt: "The past is a foreign country: they do things differently there". "Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln", lautet die gängige deutsche Übersetzung. Auf die Geschichte des Argentiniers bezogen sind wohl nicht einfach andere, sondern vor allem bessere Regeln gemeint.

Es gibt keine Abenteurer mehr

Der Vergleich mit der Vergangenheit des Großvaters lässt die Gegenwart Lenas jedenfalls nicht gut aussehen. Niemand macht sich heute wie einst der Großvater allein auf den Weg ins Abenteuer, lamentieren die ehemaligen Schulkameraden, sondern höchstens in Begleitung eines Fernseh-Teams und mit reklamebedruckten T-Shirts. Anstelle von Wilderern gelten heute Börsianer als verwegene Burschen, Reizüberflutung, Orientierungslosigkeit und der Verlust der Werte sind zu beklagen.

"Erzählen und erzählen lassen, das sei eigentlich alles, was es brauche, um die Welt und einander auf diesem behutsamen Weg bereits erfahren und besser begreifen zu lernen", zitiert Lena einmal einen der Lehrer ihres Großvaters. Wie gut Klaus Merz diese Kunst beherrscht, das zeigt er überall dort, wo er seine Geschichte ohne Seitenhiebe in Richtung Gegenwart erzählt. Nicht von ungefähr wird der 1945 geborene Autor, der bereits über zwei Dutzend Bände mit Lyrik und Kurzprosa veröffentlicht hat und der seit Jahren den für Autoren nicht immer erfreulichen Ruf des literarischen Geheimtipps genießt, für seine verdichtete, prägnante Sprache geschätzt.

Auch in "Der Argentinier" hält man immer wieder an wunderbar eindrücklichen und überraschenden Sätzen inne. Als der Großvater aus freien Stücken ins Altersheim geht, heißt es etwa, er übersiedelte "ausgerechnet an jenem Tag, als die unbegreifliche Nachricht durchs Land ging, dass drei Tonnen Bienen erschöpft vom blauen Himmel gefallen seien."

Ein "unerhörter" Lebensentwurf

Klaus Merz' "Der Argentinier" hat im Gegensatz zur üblichen Definition der Novelle keine unerhörte Begebenheit zum Inhalt, sondern einen unerhörten Lebensentwurf. Es ist eine schöne, sparsam erzählte Geschichte von Eigensinn, gelebten Träumen und einem möglichen Weg zum Glück – die etwas angestrengt herbeigeschriebene Gegenwartskritik darin kann man getrost überlesen.

Service

Klaus Merz, "Der Argentinier. Novelle", Haymon Verlag