Unkonventionelle Medientheorien

Für eine substanzreiche Öffentlichkeit

Er gilt als größter Montagekünstler der Literatur, des Films, des Fernsehens der Gegenwart. In Kluges Filmen, Büchern und in den Fernsehsendungen seiner Produktionsfirma dctp vermischen sich Fiktion und Fakten, stößt Erzählung unvermittelt auf Theorie.

"Öffentlichkeit ist im 18. Jahrhundert der Staatsmacht und anderen Gewalten erst noch abzuringen. Immanuel Kant hat das in seiner Arbeit "Was heißt: sich im Denken orientieren?" so formuliert: ... dass diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nimmt, weil nämlich die einzige Garantie für die 'Richtigkeit' unseres Denkens darin liegt, dass wir gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, denken."

So beginnt Alexander Kluge eine Rede mit dem programmatischen Titel: Warum die Öffentlichkeit ein um keinen Preis der Welt verkäufliches Gemeingut ist (Gemeingut = persönliches Eigentum eines jeden von uns).

Kluges handlungsleitende Grundidee: "Es gibt kein Denken, das sich darauf beschränkt, die Stärke seiner Gedanken monologartig vorzutragen; die Rückantworten, die Anerkennung meiner Gedanken aus der Rückantwort der anderen, das ist überhaupt denken. Da ich auf das Denken (und nach Kleist heißt das auch: 'auf das Unterscheidungsvermögen der Gefühle') nicht verzichten kann, ist die elementare Fähigkeit, sich mit anderen auszutauschen, Öffentlichkeit zu bilden, lebensnotwendig. Es ist kein Pathos, sondern Lebenspraxis, dass substanzreiche Öffentlichkeit die Voraussetzung dafür ist, dass ich mir traue, dass ich Selbstvertrauen habe und anderen trauen kann. Dass dies herstellbar ist, ist die Funktion, aber auch das Leben der Öffentlichkeit."

Idealist und Realist

Alexander Kluge: ein Romantiker, ein Esoteriker, ein Idealist? Mag sein, aber Kluge ist auch ein kluger Realist: Er studierte nicht nur Kirchenmusik und Geschichte, sondern auch Rechtswissenschaften und war (kurz) auch als Rechtsanwalt tätig. Mit seinen theoretischen Konzeptionen war er prägend für den avantgardistisch-intellektuellen Neuen Deutschen Film der 1970er und 1980er Jahre, mit seinem realpolitischen Talent schaffte er es, im deutschen Privatfernsehen eine Plattform für seine Art von Fernsehen zu etablieren.

"Mein Ziel ist es", so Kluge, "das Fernsehen für das offen zu halten, was außerhalb des Fernsehens stattfindet." Kluge beweist, dass der "Möglichkeitssinn" Realität werden kann. Das Eröffnen von Wachstums- und Entfaltungsmöglichkeiten für Menschen und Gemeinwesen, die sie bilden, das ist ein Ziel des politischen Denkers und Schriftstellers Alexander Kluge.

Frankophone Tradition des Denkens

Als Denker wurzelt Kluge im deutschen Idealismus. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Die vier kantischen Fragen finden sich - unausgesprochen - immer wieder bei Kluges Beschäftigung mit Medien. (Welch ein Unterschied zum dominierenden Mediendiskurs!) Aber Kluge ist bei allem Hang zur Theoriebildung kein rein "deutscher" Denker. Stark findet man bei ihm eine frankophone Tradition des Denkens, die Wert auf Ästhetik und Élégance legt (Heidegger, so erzählte Kluge bei seinem letzten Wien-Besuch, sei für ihn auf Französisch "lesbar" - gemeint war: "erträglich") - die Arbeit an der Sprache ist für ihn nicht nur Arbeit am Gedanken, sondern eine Form des Seins.

Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Alexander Kluge immer wieder mit dem Soziologieprofessor und Sozialphilosophen Oskar Negt zusammen. (Negt studierte bei Max Horkheimer und Theodor Adorno, war Assistent bei Jürgen Habermas und gilt als einer der Wortführer der 68er-Generation). Ihr erstes gemeinsames Buch "Öffentlichkeit und Erfahrung" (1972), "Satz für Satz gemeinsam geschrieben", zeigt eine intellektuelle Praxis Kluges (und natürlich auch Negts), die die Debatte und den Diskurs begünstigt und fordert. Hier finden wir zwei Gentlemen am Werk und ihr Gentlemen's Agreement (die Anerkennung des anderen, der Respekt vor dem anderen) ist - in ihren Werken nachvollziehbar - beispielgebend. Wir wissen: Medien sind ein Ausdruck der Kultur und begründen Haltungen zur Welt und ein Verhalten in der Welt. Sie verändern unsere Wahrnehmung, sie "massieren uns durch". Marshall McLuhan hat nicht nur den Satz "The medium is the message" geprägt, sondern auch den viel stimmigeren: "The medium is massage!"

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Kluge weist auf einen strukturell bedingten Nachteil vor allem der, der Öffentlichkeit verpflichteten, öffentlich-rechtlichen Rundfunkunternehmen hin: "Die Öffentlichkeit hat von sich aus eine Tendenz, schwach zu werden." Denn wesentliche Lebenserfahrungen ("Erfahrungen, deren Stärke aus den Intimbereichen stammt" und Erfahrungen aus dem Bereich der Sphäre der Arbeit) gelten als "privat" - "An dieser Stelle entsteht ein Antagonismus, der die Öffentlichkeit zusätzlich schwächt: Es gehört zur Autorität des Gemeinwesens, dass es das Ganze repräsentiert. Die Öffentlichkeit, die das Gemeinwesen bildet, kann deshalb nicht zugeben, dass sie sich nur aus Fragmenten zusammensetzt."

Kluge argumentiert nun (bezugnehmend auf Hannah Arendt und G. E. Lessing), warum - salopp gesagt - auch "Unterhaltung" ein wichtiges Element für Öffentlichkeit (und wohl auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk) darstellt: Es seien die als "schwächer" betrachteten Gefühle, die bei Lessing Rang besitzen, die dafür aber kontinuierlich sind und "ihre Qualität in der Zähigkeit haben", wie zum Beispiel Freundschaft, das Gastrecht, das Bedürfnis zu tratschen, das Bedürfnis, Nachrichten ohne Grund auszutauschen.

"Die Formen der Geselligkeit des geselligen Lebewesens Mensch sind es, die wir brauchen, um ein Gemeinwesen und eine Öffentlichkeit zu fundieren. Hiermit hängt es zusammen, dass die Öffentlichkeit selber als Projekt nicht die Erfinderin der Werkzeuge, Mittel, Worte sein kann, die sie braucht, um den Austausch der öffentlichen Mitteilungen auch zu bewältigen und zu erneuern. Das heißt, für die Erzeugung der öffentlichen Werkzeuge, der Filme, der Bücher und der Diskurse ist immer wieder die Rückbeziehung auf die Subjektivität und Intimität erforderlich, denn dort werden die Instrumente gebaut, die in der Öffentlichkeit die Öffentlichkeit substanzreich machen. Das ist die Meinung von Lessing über die Arbeit des Poetischen: dass zwischen dem Unmittelbaren, Subjektiven und Einzelnen und dem Allgemeinen die Poetik die Verbindung schafft."

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