Düstere Chronik
Das letzte Abendmahl
Vom Überschreiten der Grenzen, der zeitlichen, moralischen, künstlerischen und religiösen, von Erinnerungen und Visionen, von Profanem und Transzendentem handelt Huelles Geschichte, die der Erzähler immer wieder eine "Chronik" nennt.
8. April 2017, 21:58
Der Anfang ist unheimlich - unheimlich, düster und rätselhaft. Von Regierungstruppen, die die Unterstadt durchkämmen, ist die Rede und von Aufständischen, die erschossen werden, von Motorradfahrern, die mit dünnem Stacheldraht ihre Opfer erdrosseln, und Kaffeehausbesuchern, die dieses Schauspiel beklatschen. Ein Jussuf wird erwähnt und ein Café El Raschid, ein Ariston und ein Aristide, Maschinengewehrsalven und eine Detonation. Und ein Mann, der das alles erlebt, der Schreie hört, von Polizisten angegangen wird, umherirrt - und einschläft.
Als schließlich ein Telefon klingelt, wacht der Mann auf und merkt, dass alles ein Traum war, ein Alptraum. Mit dieser Szene beginnt Pawel Huelles Roman "Das letzte Abendmahl": einer unheimlichen Szene, die Gegenwart und Vergangenheit übereinanderblendet und auch dadurch, dass sie als geträumt gezeigt wird, nichts von ihrer Unheimlichkeit verliert. Vermittelt sie doch dem aus dem Traum Erwachten, Pawel Huelles Ich-Erzähler, den Eindruck, dass man "an jedem Ort und zu einem beliebigen Zeitpunkt die Grenze überschreiten kann, hinter der die Dinge, Angelegenheiten und Menschen nach einem anderen Muster gestrickt sind".
Ungewöhnliches Projekt
Vom Überschreiten der Grenzen, der zeitlichen, moralischen, künstlerischen und religiösen, von Erinnerungen und Visionen, von Profanem und Transzendentem handelt Huelles Geschichte, die der Erzähler immer wieder eine "Chronik" nennt - und die doch alles andere als geradlinig erzählt, linear verlaufend und leicht nachvollziehbar ist.
Auslöser der Chronik ist das ungewöhnliche Projekt des Künstlers Mateusz, das der Erzähler begleiten möchte. Mateusz will das letzte Abendmahl malen - und hat zu diesem Zweck zwölf alte Bekannte gebeten, ins Theater nach Danzig zu kommen, um ihm Modell zu stehen. Vier dieser Männer stehen im Zentrum des episodenhaften Romans, der in einem Danzig der Zukunft spielt, das von Anschlägen auf Geschäfte und Attentaten auf Moscheen erschüttert wird, von christlich-muslimischen Konflikten.
Einsam und müde Gewordene
Da ist Doktor Lewada, Mitbegründer der Gewerkschaft Solidarnosc und Arzt, der einst verletzte Demonstranten ohne Genehmigung behandelte - und dafür teuer bezahlen musste, kein Duckmäuser und Mitläufer zu sein. Da ist Professor Wybranski, ein Physiker, schwerreicher Geschäftsmann und "zwanghafter Sexoholic", der mit Prostituierten über die Antimaterie spricht und jammert: "Ich bin müde."
Da ist der Maler Siemaszko, der Alkohol verdammt und Rauschgift preist, sich über Karrieristen ereifert und darüber, dass man heute unter Freiheit nichts anderes versteht als "Werbung, Preisreduktion, Schnäppchen". Und da ist der Religionswissenschaftler Berdo, der Reisen für sogenannte Wahrheitspilger organisiert und sich bei einem Aufenthalt in Sarajewo in einen tanzenden Derwisch verliebt, der ein tragisches Ende nimmt.
Um dieses Quartett von alt und einsam und müde Gewordenen gruppiert Huelle eine Reihe weiterer Figuren - wie den "Ingenieur" genannten Wortführer der Avantgarde und erbitterten Gegner des Malers Mateusz, der es mit Intrigen, Opportunismus und Großmäuligkeit zum Museumsdirektor gebracht hat; den nicht minder zwielichtigen Pfarrer Monsignore, der Knabenliebe mit Judenhass und ausgeprägtem Geschäftssinn paart; oder einen Mann, der als "der Zwölfte" vorgestellt wird und sich selbst den "Traum aller Philosophen und Verrückten" nennt, der, weil er eine Mission zu haben glaubt, ebenfalls nach Danzig eilt und dort zum Mörder wird.
Immer wieder irrlichtert ein David Roberts durch die Chronik, ein schottischer Maler des 19. Jahrhunderts, der für ein Jerusalem-Bild einst vor Ort recherchierte. Eine Roberts-Reproduktion wird für den Erzähler zum Anlass, ausführlich über geistige und geografische Wege des Künstlers zu spekulieren.
Gesellschaft ohne Werte
So knapp und überschaubar die äußere Handlung des Romans auch ist - sie besteht aus der wenige Stunden dauernden Fahrt nach Danzig und dem Eintreffen im Theater von Huelles vier Hauptfiguren -, so komplex und unübersichtlich sind Themen- und Motivgeflechte. Theologische, historische, künstlerische und existenzielle Fragen werden angeschnitten.
Wo hat das Abendmahl überhaupt stattgefunden? Und wie kann man heute noch ein Bild darüber malen? Was ist Kunst - und was die Wahrheit? Was bedeutet Glauben - und was kann jenseits des Todes sein? Es geht um den Zeitgeist, um die Politik der Inkulturation und um Bordelle, um Zarathustra und den Antichristen, um die Schriften des Porphyrus, um Märtyerer, Propheten und Fanatiker... Um ziemliche viele Namen, Zitate und Ideen also, die Pawel Huelle in diesem Mix aus biografischen Versatzstücken, zeitkritischen Äußerungen und religionsgeschichtlichen Exkursen unterbringt, aus gelehrten Anspielungen und bitteren Repliken.
Herausgekommen ist das finstere Bild einer Gesellschaft - einer Gesellschaft ohne inneren Zusammenhalt, ohne Werte, ohne Wir-Gefühl, voller Egoismus und Zynismus, Gewalt und Repression. Und Scharlatanerie. Wiederholt reibt sich der Autor an einer "avantgardistischen" Kunst-Mafia, die konventionelle Bilder und Orientierung an der Tradition als Kitsch geißelt und als wahren Fortschritt auf Keilrahmen geklebte Teppichreste oder in Glaswürfeln ausgestellte Luft feiert.
Vollendetes Bild
"Das letzte Abendmahl" von Pawel Huelle ist ein ebenso intelligenter wie beklemmender Roman, der "diese totale Vermischung von allem mit allem" betreibt, wobei sich der Leser freilich fragt, wie denn nun alles zusammenhängt und ob sich die Teile auch ineinanderfügen, was den Kern der Geschichte ausmacht, ob der Bedeutungsschwund der Religion als Faktum oder Verlust gilt - und: warum die Person des Malers Mateusz nur als Randfigur fungiert und dessen Konzept des Abendmahl-Bildes kein Thema wird.
Am Ende wird dieses Bild vollendet und doch nicht zu sehen sein. Bei der Vernissage in einer Kirche zerstören "Avantgardisten", zwölf junge Männer mit Gasmasken, das "Letzte Abendmahl" mit Salzsäure, lassen dabei die Aktion von versteckten Kameras filmen und werden damit später bei internationalen Festivals reüssieren: böser Schluss eines Romans, der mit Attentaten begann und mit Attentaten endet, der mit einer düsteren Szene anfing und in "tiefstem Dunkel" schließt. Der den Alptraum als literarische Wirklichkeit zeigt.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Pawel Huelle, "Das letzte Abendmahl", aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall, Verlag C. H. Beck
Link
C. H. Beck - Das letzte Abendmahl